Anziehende Wohnungspreise? Leider sind sie nie wirklich gesunken.

Vor kurzem lasen wir: Die Mietzinse ziehen wieder an. Mehrere Medien meldeten mit Verweis auf verschiedene Statistiken, dass die Angebotsmieten wieder steigen. Verschiedene Immobilienbüros messen die Preise der ausgeschriebenen Wohnungen oder der tatsächlich neu vermieteten Wohnungen. So etwa Wüest und Partner, Fahrländer zusammen mit Immoscout oder der hier abgebildete von Homegate. Und tatsächlich: Mehrere dieser Indizes ziehen schon wieder an, nachdem sie etwa fünf Jahre stagnierten respektive leicht sanken.

Ein Schulterzucken, weil es immer ein Auf und Ab gibt auf dem Markt? Nein, denn in den Jahren zuvor gab es unglaubliche Aufschläge mit massiven Auswirkungen auf das Mietzinsniveau. Und vor allem: Betrachtet man nicht die neu vermieteten Wohnungen, sondern generell alle Mietzinse, so gibt es nur eine Richtung: Sie zeigt nach oben.  Die Mieten steigen ständig weiter.

Das ist tragisch und dürfte nach Mietrecht so nicht sein: Die Kapitalkosten sind der grösste Aufwandposten für die Vermieter*innen und diese sind seit 2009 nur immer gesunken. Die Zinsen haben sich mehr als halbiert. Der Referenzzinssatz ist neun Mal gesunken! Hätten die Mieten tatsächlich etwas mit den realen Kosten der Vermieterschaft zu tun, müssten sie heute viel tiefer liegen. Doch alleine von 2015 bis 2020 ist die Nettomiete einer Durchschnittswohnung von 1306 auf 1373 Franken angestiegen.

Das hat Folgen: Trotz steigenden Löhnen und guter Konjunktur, trotz viel tieferer Kosten für die Vermieterschaft zahlen die Mietenden seit Jahren von ihrem Einkommen prozentual gleich viel fürs Wohnen. Und besonders bitter: Wer wenig verdient, der muss einen immer grösseren Anteil seines Einkommens für ein Dach überm Kopf aufbringen. Bei einem Einkommen von unter 4000 Franken muss ein Haushalt über 36 Prozent dafür ausgeben!

Wohin geht dieses Geld? Wird der Referenzzinssatz einmal gesenkt, sollten überschlagsmässig die Mieten in der Schweiz um rund 1 Milliarde Franken sinken. Diesen Wert mal neun Senkungsrunden ergibt eine gigantische Summe pro Jahr. Umverteilung pur.

Besonders eindrücklich ist der Vergleich der Wohnkosten von Eigentümer*innen und Mietenden. Leider werden diese Zahlen nur alle drei Jahre veröffentlicht, doch es zeigt sich klar: Wer Wohneigentum besitzt, zahlte seit 2008 Jahr für Jahr weniger fürs Wohnen. Eigentlich logisch bei den sinkenden Zinsen. Die Mieter*innen profitierten dagegen nicht. Und etwas zynisch gesagt: Sie bezahlen gleich viel oder mehr Miete und finanzieren so noch die Pensionskassen der Eigentümer mit.

Was läuft falsch bei den Mietpreisen? Lakonisch gesagt: Das Mietrecht schützt zwar Personen, die eine Wohnung haben, vor willkürlichen Aufschlägen (allerdings auch nicht einmal vor ungerechtfertigten Aufschlägen), aber ansonsten ist seine Durchsetzung schwach. Wo der Markt tobt – und das ist dort, wo die Menschen wohnen wollen – steigen die Angebotsmieten weiter an und die im Mietrecht postulierte Kostenmiete findet faktisch wenig bis keine Anwendung.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen hat in der letzten Woche zum Thema ökonomische Aussichten festgehalten: „Die Knappheit im Wohnungsmarkt ist das grösste Problem der Schweiz, nicht die Konjunktur und auch nicht die Inflation.“ Richtig! Nur: In den städtischen Ballungszentren, dort wo die Arbeitsplätze sind und die Menschen wohnen wollen, wird die Knappheit immer vorherrschend sein. Selbstverständlich braucht es auch neuen Wohnraum, aber die Knappheit ist in den Zentren eine historische Konstante.

Genau deshalb braucht es ein Mietrecht, das die Mietenden gegen hohe Mieten schützt, denn kein marktwirtschaftliches Rezept wird diese Probleme lösen. Wo ein endliches Gut vorhanden ist wie beim Boden, ist es Aufgabe der Gemeinschaft, dessen Nutzung zu organisieren.

P.S.: Das wissen wahrscheinlich auch die Vertreter*innen der Hauseigentümerseite. Sie beklagen sich momentan ebenfalls, dass sich immer weniger Personen Wohneigentum leisten können. Klar – wenn die Preise dermassen steigen, wird das für alle, die nicht grosse Summen erben, extrem schwierig. Allerdings haben jene, die heute besitzen, grosse Freude an den Wertsteigerungen. So verirrt sich die Hauseigentümerseite bei der Förderung des Wohneigentums auf Abwege wie Steuererleichterungen in immer neuen Varianten statt dass er das Hauptthema der explodierenden Preise ansprechen würde.

Normalität Adieu?!

Mein Beitrag zur 1. Augustfeier in Horw zum Thema

Liebe Anwesende

Was hat es mit der Normalität auf sich?

Als ich in den 80er Jahren in die Kantonsschule ging, da schien mir ganz vieles gefestigt zu sein. Auch wenn man als Jugendlicher sich die Welt ganz anders vorstellen kann als sie ist, ist sie eben doch so, wie sie ist: Es fehlte mir in vielen Bereichen an der der realen Vorstellungskraft, wie die Welt denn aussehen würde. Es gab den Westen und den Osten, da war eine Mauer dazwischen und das war nicht gottgegeben, aber doch ganz ähnlich. Ich hatte Brieffreundinnen hinter dieser Mauer und besuchte 1988 / 89 Menschen in der DDR. Ich kannte die Nöte und den Ärger über das Regime, ich habe den friedlichen Aufstand nah mitbekommen, aber ehrlich gesagt: Ich war baff, als die Mauer fiel und überrumpelt. Das war mein erstes politisches Erlebnis, dass sich die Welt in ihren Grundfesten verändern kann und unser Denken da manchmal nicht nachkommt, auch wenn in Hundert Talkshows im Voraus darüber diskutiert wurde.

Und interessanterweise hat sich diese Erfahrung auch immer wieder wiederholt: Ich konnte mir den Krieg auf dem Boden von Jugoslawien schlicht nicht vorstellen. Viele andere auch, gescheite Kommentatoren sprachen von einer Unmöglichkeit, weil doch die Wirtschaft so verflochten war.

Oder wie war das mit dem Fast-Zusammenbruch der UBS 2008? Als Linker war ich diesen Banken immer etwas skeptisch gegenüber, aber irgendwie konnte ich mir nie vorstellen, dass die tatsächlich mit einer falschen Strategie derart in Schwierigkeiten geraten könnten.

Das gleiche gilt für die Corona Zeit: Wir wussten, dass eine Pandemie die grösste Bedrohung für die Schweiz ist. Das stand in jedem Lehrbüchlein und der Bund hat 2014 auch eine Pandemie-Übung durchgeführt.  Und trotzdem: Wer war darauf gefasst? Wer musste nicht tief einatmen und sich neu orientieren?

Ja, und was am 24. Februar geschah, das hat uns auch überrumpelt. Da war zwar irgendwo im Donbass seit Jahren ein Krieg, aber viele von uns konnten sich nicht vorstellen, dass so nah ein so gewalttätiger Krieg stattfinden würde, obwohl dieses Beispiel vielleicht gerade deshalb so überraschend war, weil es einem Modell aus dem 19. oder 20 Jahrhundert folgte. Ein plumper, völkerrechtswidriger Angriffskrieg zur Vergrösserung des Territoriums des Angreifers.

Die Normalität hat also immer wieder Brüche erlebt. Es gibt keine kontinuierliche Normalität im politischen, aber auch im gesellschaftlichen. Immer wieder mussten wir in Umbruchzeiten, in glücklichen wie schwierigen, wieder eine Normalität finden. Das heisst, die Gesellschaft musste sich in wichtigen Fragen einigen, wie sie miteinander umgeht, wie Ereignisse gedeutet werden, selbstverständlich in allen Farben und Schattierungen. Und in diesen Zeiten besteht ein grösseres Bedürfnis nach Diskussion und Austausch. Ich habe das vor allem bei Corona so erlebt. Wie viel haben wir darüber diskutiert, über den R-Wert, exponentielle Kurven, Massnahmen, oder über unser Verhältnis und Verständnis zum Staat. Unvergessen war mir zum Beispiel, als mir ein Unternehmer mit grossem Entsetzen erzählte, wie erstaunt er war, dass der Staat einen Lockdown anordnen und durchziehen kann. Für ihn war der Staat und das Parlament bisher ein Ort, wo viel geredet wird, aber die Welt wird von der Wirtschaft gestaltet.

Mir ist es deshalb ein grosses Anliegen, dass wir diese Diskussionen miteinander führen können. Dazu brauchen wir viele Orte zum Diskutieren, viele Informationen und wir brauchen vor allem einen Rahmen für diese Diskussionen, der allen eine Teilnahme ermöglicht. Und dies ist eines der ganz grossen Themen unserer Zeit. Wo treffen wir uns noch für diese Diskussion und wie gehen wir miteinander um, damit diese Diskussion nicht einzelnen oder vielen verleidet. Wir haben in der Schweiz viele Orte dafür, wir haben sie in Jahrzehnten und Jahrhunderten geschaffen und dafür gekämpft. Seien das lokale Organisationen, lokale Demokratie, seien das nationale Möglichkeiten wie Initiativen und Referenden. Auch diese Möglichkeiten sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben engagierte Bürger geschaffen.

Ich mache mir aber Sorgen um diese Diskussionsmöglichkeiten. Wir müssen uns um sie kümmern und sie pflegen. Wir haben soziale Medien, die uns die Chance geben, dass viel mehr Menschen miteinander diskutieren können, viel mehr Menschen können sich so äussern, gleichzeitig steigt aber die Gefahr, dass nur noch jene gehört werden, die besonders krasse Meinungen äussern, denn sie werden auf Facebook oder Youtube bevorzugt gezeigt.

Wir haben traditionelle Medien, die diesem Trend folgen müssen oder wollen. Nach einem Unfall am Axen werden sofort Schuldige gesucht, sei es eine Leitplanke, die gefehlt hat, sei es ein Tunnel, der noch nicht gebaut ist. Haben die Umweltverbände mal wieder etwas verhindert, haben die Gericht zu langsam gearbeitet? Dass zuerst aber ein tragischer Unfall geschehen ist, kommt gar nicht mehr vor. Oder ein Konzert wird abgebrochen, weil Personen mit Rastafrisur und dazu passender Kleidung Reggeamusik spielen. Die Reaktion: Häme, Lächerlichkeit. Wahrscheinlich war der Abbruch des Konzerts eine Überreaktion und auch falsch, aber tagelang machte sich niemand die Mühe, den Hintergrund von dieser Musik oder die ursprüngliche Bedeutung der Rastafrisur zu erklären. Man hatte einen guten Verriss einer Aktion und eine gute Schlagzeile, was ja reicht.

Und wir selber? Wir fördern mit unserem Verhalten diese Art von Kurzfutter und Sensationsmeldungen, denn auch ich ertappe mich, wie ich mich ablenken lasse, wenn ich mich durch all die Meldungen tippe und wo ich dann auch hängen bleibe.

In dem Sinne sind mir für die Diskussionen – und auch aus der Erfahrung aus der Corona Zeit – folgende Punkte besonders wichtig, vielleicht sind es auch Gedanken, die besonders für mich selber als Politiker gelten.

Differenzierung statt Zuspitzung

Natürlich muss man in einem Abstimmungskampf eine Sache auf den Punkt bringen und am Schluss Ja oder Nein sagen. Man kann die Debatte aber trotzdem differenziert führen und die Zwischenbereiche aufzeigen, auch Dilemmas, die bestehen, denn dort werden die Diskussionen interessant. Kaum etwas ist zu 100 Prozent richtig oder falsch, sonst müssten wir es nicht diskutieren. Wir können mit unseren Fragen und Interesse mithelfen, dass die Diskussionen breiter werden.

Klare Worte statt Schlötterli

Corona hat uns alle gefordert, auch in Diskussionen. Schnell sind auch mal die Fetzen geflogen. Ich habe gemerkt: Es war sehr wichtig, eine klare Meinung zu äussern, auch etwas klarzustellen, wo man eine andere Haltung hat oder wo Institutionen ohne konkrete Gründe angegriffen werden. Gleichzeitig ist wichtig, dass wir nicht in einen Eskalationsmodus kommen, was gerade mit gegenseitigen Schimpfworten wie Schlafschafe oder Covidioten passiert ist. Respekt ist grad dann wichtig, wenn man im Streit miteinander ist.

Zuhören schadet nicht

Gut, können heute nicht nur die traditionelle Medien senden und die Bevölkerung nur empfangen. Das hat das Meinungsspektrum erweitert. Aber das heisst nicht, dass das Zuhören deshalb weniger wert wäre, übrigens auch für die Medien. Manchmal ist es auch gut, wenn man vor dem Senden sich zuerst eine Meinung bildet und das geht nur, wenn man verschiedenen Personen zuhört, und sich auch vor dem Senden auch etwas überlegt.

Liebe Zuhörerinnen, Liebe Zuhörer, ich habe jetzt gerade gesendet, herzlichen Dank für diese Einladung, dass ich Ihnen einige Worte mitteilen durfte. Der 1. August ist ein guter Ort, um solche Fragen zu diskutieren und unser Zusammenleben auch immer wieder neu zu ordnen. Ich freue mich, dass wir beim Apéro diese Diskussion weiterführen können.

Putin hat Angst vor der Zivilgesellschaft, nicht vor dem Militär anderer

Meine Rede zur Friedenskundgebung auf dem Kornmarkt vom 4. März 2022

Krieg ist schmutzig, Krieg tötet, zerstört und verursacht unsägliches Leid. Menschen, die ihr normales Leben führen wollen, ihre besonderen oder auch ganz gewöhnlichen Träume realisieren wollen, die zur Arbeit gehen, sich lieben, sich streiten, die sich für Politik interessieren oder auch nicht, all diese Leute müssen heute in Kiev, in Charkiv oder anderen Orten in der Ukraine Heldinnen und Helden werden. Doch ehrlich, wer von uns will schon ein Kriegsheld oder eine Kriegsheldin werden?
Der Angriffskrieg von Putin ist durch nichts zu rechtfertigen. Putin schiebt militärische Gründe vor und verdreht in grotesker Weise die Wirklichkeit, wenn er sich von der Ukraine angegriffen fühlt oder die Ukraine als Diktatur darstellt. Denn der wichtigste Grund für seinen Krieg ist seine Wut auf das freie Zusammenleben von Menschen. Die ukrainische Zivilgesellschaft ist nicht perfekt, auch die Demokratie nicht – wie auch unsere nicht – aber sie hat grosse Schritte gemacht, sie hat sich gerade in den letzten acht Jahren seit der Revolution stark entwickelt und genau davor fürchtet sich Putin, er fürchtet sich vor Menschen, die sich wehren, die nicht still sind, die ihre Zukunft mitgestalten wollen und sich nicht von einem allmächtigen Präsidenten gängeln lassen wollen. Denn es sind gerade diese Menschen, die Putin am gefährlichsten werden können, all diese mutigen Frauen und Männer in seinem eigenen Land, die trotz Dauerpropaganda, trotz massiven Repressionen, Morden und Einschüchterungen gegen diesen Krieg und dieses Regime antreten. Wir wollen auch an sie denken!
Die Schweiz als Kleinstaat und als Land mit einer Tradition des zivilgesellschaftlichen Engagements hat sich in der Vergangenheit bereits für diese Menschen im Ausland eingesetzt – auch in der Ukraine. Die Schweiz ist auch Depositarstaat von vielen völkerrechtlichen Verträgen. Völkerrecht und die Stärkung der Zivilgesellschaft, das freie und friedliche Zusammenleben von Menschen, das ist unser Angebot und unsere Antwort für Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa und auf der Welt.
Herzlichen Dank! Slawa Ukraini!

Umverteilung konkret: Wie Mietende Jahr für Jahr zuviel bezahlen

Das Büro Bass hat berechnet, wie sich die Mietzinse gemäss Mietrecht entwickeln müssten – und wie sie sich tatsächlich entwickelten. Die Studie belegt die unglaubliche Umverteilung im Mietwohnungsmarkt. Im berechneten Zeitraum von 2006 bis 2021 hätten die Mieten auf Grund von 9 Referenzzinssatzsenkungen sinken müssen, sind aber um 22 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Teuerung gerade einmal um knappe 4 Prozent angestiegen. Würde man bei der Teuerung die Mietzinse nicht berücksichtigen, dann hätten wir in diesem Zeitraum schlicht keine Preissteigerungen gehabt.

 

 

 

Wie hätten sich die Mietzinse entwickeln müssen? Jede Senkung des Referenzzinssatzes soll die Mietzinse um knapp 3 Prozent senken. Zwar können die Vermieter*innen gewisse Kosten gegenrechnen, diese sind aber in einem Umfeld von Tiefstzinsen und ohne Teuerung minim bis gar nicht vorhanden. Der Sprung zwischen den mietrechtlichen Vorgaben und der Realität ist unglaublich.

Wer profitiert und wer zahlt drauf? Das ist simpel zu beantworten: Es handelt sich um eine riesige Umverteilung von Seiten der Mietenden zu den Vermietenden. Mittlerweilen zahlen die Mietenden pro Monat im Schnitt 370 Franken zuviel Miete oder 26 Prozent mehr als mietrechtlich korrekt berechnet! Die Summe hat sich auf Grund des sinkenden Referenzinssatzes Jahr für Jahr vergrössert. Die Tabelle oben zeigt es brutal offen: Steigt der Referenzzinssatz, entwickeln sich die Mieten wie erwartet und wie es die mietrechtliche Berechnung erwarten lässt. Singt dagegen der Referenzzinssatz, entkoppelt sich die effektive Entwicklung vollkommen von den mietrechtlichen Vorgaben. Insgesamt macht die Umverteilung 2006 bis 2021 die enorme Summe von 78 Milliarden Franken aus! Wir diskutieren in der Schweiz viel über hohe Preise und Importe, die bei uns teurer sind als im Ausland. Keine falsche Diskussion – aber in Anbetracht dieser gigantischen Summe sind das Nebenschauplätze.  Die Zahlen belegen eindrücklich, woher die satten Gewinne der Immobilienlobby stammen. Jahr für Jahr steigen diese. Dieser Mechanismus hat massivste Auswirkungen auf das verfügbare Einkommen der Mieter- und Eigentümerhaushalte. Während jene, die sich Wohneigentum (noch) leisten konnten, durch die Tiefstzinsphase viel günstiger wohnen als noch vor 10 oder 15 Jahren, haben die Mieterinnen und Mieter gleiche oder noch höhere Belastungen durch das Wohnen. Dieser Zweiklassengesellschaft wird viel zu wenig Bea

chtung geschenkt. Schulter zucken und: Pech gehabt, wer in Miete wohnt. Die Zahlen für die Tabelle erscheinen leider nur alle drei Jahre, aber nichts deutet darauf hin, dass sich bei der nächsten Aktualisierung irgendetwas ändern wird.

Der eine Grund für diese Entwicklung wurde schon genannt. Nur rund jede sechste Mietpartei bekommt eine Mietzinssenkung, wenn der Referenzzinssatz sinkt. Ein lächerlicher Anteil! Unser Mietrecht ist falsch konstruiert, weil es für die Vermieterseite keine Sanktion gibt, wenn sie die Senkung nicht weitergibt. Wer sich als Mieter oder Mieterin nicht wehrt, hat verloren. Gleichzeitig werden die Mieten bei Wiedervermietungen der Wohnungen zum Teil massiv erhöht. Krasse Fälle mit mehreren Hundert Franken ohne irgendeine Investition sind an der Tagesordnung. Unser Kampf für transparente Mieten, für die Anfechtung der Anfangsmiete und deren Begrenzung ist unglaublich wichtig.

Gleichzeitig müssen wir eine bessere Kontrolle der Mietzinse haben. Carlo Sommaruga und Jacqueline Badran haben dazu Vorstösse eingereicht. Ich habe verlangt, dass bei Sanierungen keine übermässigen Aufschläge verrechnet werden. Aber in der Pflicht ist auf Grund dieser horrenden Zahlen der Bundesrat: Er hat jahrelang weggeschaut, ein paar Mini-Mini-Pflästerli verteilt, aber die ganze Umverteilungsproblematik war ihm egal. Zeit, dass er handelt und diesem krassen Missstand ein Ende setzt.

Wir brauchen mehr als gerettete Enten

Die Abstimmung zum Medienpaket ging bachab. Der Kompromiss hat nicht gehalten. Dafür gibt es offensichtliche, ärgerliche, ernüchternde und beunruhigende Gründe. Zuerst: Als ich als Linker auf Podien Fördergelder für Verlage mit hohen Renditen verteidigen musste, schwante mir schon früh, das kommt nicht gut. Die Geschäftspolitik von Pietro Supino, aber auch die wacklige Unterstützung von Peter Wanner waren gewiss kein Startvorteil für die Seite der Befürworter*innen. Ärgerlich war daran, dass ausgerechnet die Gegner*innen der Vorlage den grossen Verlagen noch mehr Geld hätten zuschieben wollen. Dazu hatten sie mehrere Anträge gestellt. Und nie im Leben hätten FDP oder SVP einer Beschränkung der Dividenden von unterstützten Verlagen gefordert oder unterstützt. Aber wenn man sowas in einem Abstimmungskampf erklären muss, hat man schon verloren – es ist das Privileg der Referendumsseite, alle möglichen und unmöglichen Argumente im Abstimmungskampf vorbringen zu dürfen.

Ernüchternd, aber auch nicht überraschend war, dass Medienvielfalt und Qualität ein schwieriges Diskussionsthema sind. Manchmal hörte ich: Es gibt ja heute soviel zu lesen, man kann das eh nicht alles bewältigen, wozu noch mehr Medien unterstützen? Auch hier war es ärgerlich, dass die Gegner*innen der Vorlage einen Überfluss an Informationen herbeiredeten und dabei die Mitteilungen von Verwaltungen, Regierungen oder von Firmen einfach mitzählten und damit geflissentlich übersahen: Wir wollen – wie es die Rechte formuliert – keine Behördenpropaganda, sondern kritischen Journalismus, der einordnet, verschiedene Standpunkte darstellt und nicht einfach nachplappert, was vorgegeben wird. Medienvielfalt ist für unsere Demokratie essenziell, aber kein Thema, das die breite Bevölkerung bewegt. Dazu hat die Gratiskultur, die auch von einheimischen Medien gepflegt wurde, das ihre beigetragen.

Beunruhigend waren zwei Sachen: Die Medien, vor allem die grossen Medienhäuser, stossen auf recht viel Kritik und Distanz. Vielleicht ist es eine falsche Hypothese, aber je stärker sich die Medien von Klickzahlen lenken lassen und sich dadurch vermeintlich an den Themen orientieren, die mehrheitlich interessieren, desto stärker werden sie beliebig und letztlich uninteressant. Für die Berichterstattung über einen spektakulären Verkehrsunfall oder eine gerettete Ente brauchen wir auch keine Medienförderung. Diese Kritik ist etwas ungerecht, denn viele Medien machen einen tollen Job und investieren in die Recherche, aber sie müssen sich der Diskussion stellen, was ihre Rolle in der Gesellschaft ist und welche Inhalte relevant sind. Zweitens gab es auch einen Bodensatz an Massnahmengegner*innen, die das Medienpaket ablehnten. Ihnen ist gerade das Einordnen und Vergleichen von Meldungen oder gar Faktenchecks ein Dorn im Auge. Die Kommentarspalten waren voll, das hat unserer Seite einige Prozente gekostet. Ich war bisher nicht so skeptisch von wegen Spaltung der Gesellschaft, aber das müssen wir im Auge behalten. Gerne weiter mit Fakten und Diskussionen.

Wie geht es weiter? Im Medienpaket gab es einige Teile, die unbestritten waren, wie die Unterstützung der Agenturen, technische Angebote für Medien im digitalen Bereich oder die Unterstützung des Presserates. Diese Teile sollten wir rasch einführen. Parallel dazu braucht es Lehren aus dem Abstimmungskampf und eine Konzentration auf das Wesentliche:

  • In Gebieten, die bereits heute medial unterversorgt sind und für Themen, für die das gleiche gilt, braucht es rasch Lösungen. Wie in nordischen Ländern soll mit einer direkten Förderung kritischer und qualitativ hochstehender Journalismus Unterstützung erhalten. Eine Stiftung (oder eine andere Organisation) finanziert damit direkt Stellen ohne Umweg über Posttaxenvergünstigungen. Damit erübrigt sich auch die theoretische Aufteilung zwischen gedruckten Zeitungen und Online-Medien.
  • Die Hilfen werden auf jene Medien begrenzt, deren Besitzer*innen ihre Dividendenausschüttungen klar begrenzen.
  • Finanziert soll diese Unterstützung durch eine Abgabe auf dem Umsatz der grossen Internetplattformen oder durch eine Abgabe auf dem Umsatz der Werbegelder in der Schweiz.

 

 

Haben Sie gemerkt, wie handzahm SVP und FDP sind?

Das Medienpaket wird heiss diskutiert. Kaum diskutiert wurde bisher die Erhöhung der Hilfen für die Mitgliederpresse. Sie wird von 20 auf 30 Millionen Franken aufgestockt. Denn es ist klar: Auch die Magazine und Hefte von Vereinen, Stiftungen oder der Parteien tragen zur Medienvielfalt bei.  Manchmal hätten diese Produkte etwas mehr Schwung nötig, aber trotzdem: Sie sind wichtig, damit diese Organisationen mit ihren Mitgliedern kommunizieren können. Online ist gut und recht, ersetzt diesen Kanal aber nicht.

Die Liste der unterstützten Organe ist beeindruckend und zeigt die Breite der Zivilgesellschaft auf. Das fängt in unserem Kanton beim 041 Kulturmagazin an, geht über zum Luzerner Kirchenboten, und weiter zum Hauseigentümerverband oder zur Gewerbezeitung. Mit dabei sind auch die Organe „Luzerner Freisinn“  oder die nationale SVP Zeitung „Klartext“.

Nun heisst es im Abstimmungskampf oft, eine Förderung mache die Medien vom Staat abhängig. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Der Slogan ist eingänglich, aber auch etwas trivial. Oder haben Sie den Eindruck, diese Parteien würden wegen dieser Förderung nett über den Bundesrat schreiben?

Abhängigkeiten und Beeinflussungen entstehen ganz anderswo. Wenn Inserenten den Inhalt beeinflussen, wenn  Sponsoring Content für Leser*innen nicht erkennbar ist und vor allem durch Geldgeber, die Zeitungen kaufen, unbekannt bleiben und so ihre Meinung verbreiten.

Das Medienpaket beschränkt die Vorgaben auf wenige Punkte. Die linke Wochenzeitung bekommen Fördergelder ganz gleich wie die SVP-Weltwoche. Nur eines wollte der Gesetzgeber ausschliessen: Dass People-Heftli oder Gartenmagazine von der Förderung profitieren. Diese neutrale Unterstützung vergrössert die Unabhängigkeit der Medien.

Heuchlerische Behauptungen: Wer im Medienpaket die Grossen und wer die Kleinen unterstützte

Ein gängiges Argument gegen das Medienpaket lautet: Davon profitieren vor allem grosse Verlage und die Kleinen erhalten viel zu wenig. Über 70 Prozent gingen an die ganz grossen Verlage, wollen die Gegner ausgerechnet haben. Die Zahlen sind falsch, das zeigt eine kurze Berechnung, denn einerseits bekommen die Kleinen dank dem Willen des Parlaments prozentual mehr als die Grossen und zum Zweitens stellt sich auch die Frage, wer zu den Grossen gezählt wird: Anscheinend auch die kleinen Regionalmedien wie die Urner oder Obwaldner Zeitung, die zu einem grossen Verlag gehören.

Die Behauptung ist aber auch heuchlerisch. Denn in der Ratsdebatte haben sich jene, die sich jetzt gegen das Gesetz aussprechen für die Grossen eingesetzt. Sie waren einmal erfolgreich und einmal unterlagen sie.

Maximale Förderung der Onlinemedien

Wäre es nach unserem Willen und nach dem Vorschlag des Bundesrats gegangen, hätten die kleinsten Onlinemedien für jeden Franken, den sie aus der Leserschaft erhalten noch 80 Rappen Förderung bekommen. Die Mehrheit des Parlaments hat zu Gunsten der grösseren Medien diesen Prozentsatz von 80 auf 60 Prozent gekürzt. Tenor war: Eine Förderung von 80 Prozent schaffe eine zu hohe Abhängigkeit.

Holdingklausel

Die Holdingklausel blieb trotz Widerstand von FDP und SVP im Gesetz. Sie besagt, dass bei der Onlineförderung zur Berechnung des stark degressiven Förderbeitrags alle Titel eines Medienunternehmens in der gleichen Sprachregion zusammengezählt werden müssen. Die CH Medien oder die TX Group erhalten also nur einmal Geld und können nicht für jede Zeitung vor Ort ein neues Gesuch stellen. Das ist entscheidend zur Verteilung der Gelder, denn ganz grosse Unternehmen erhalten auf dem Geld, das sie aus der Leserschaft über Abos und andere Zahlungsmethoden erhalten, nur wenige Prozente Förderung, die Kleinsten dagegen wie oben beschrieben 60 Prozent.

Ein kleiner Schlenker noch: Ausgerechnet die Gegner*innen der Vorlage monieren jetzt einen Einheitsbrei, denn (wegen des Mantelsystems) in vielen Zeitungen steht heute das Gleiche. Sie wollten aber in der Debatte mit der Abschaffung der Holdingklausel dieses System noch belohnen.

Etwas ausgebimmelt…

Ich habe mich vor der Abstimmung zurückgehalten in Sachen Spaltungsvorwürfe und der Rolle der SVP in dieser Debatte. Wir hatten schon viele harte Abstimmungskampagnen, unversöhnliche und hitzige. Das geht oft vergessen – die EWR Abstimmung war emotional noch aufreibender und erst vor kurzem wurde mit den Pestizidabstimmungen auch sehr hart gekämpft.

Eines aber finde ich schon bemerkenswert  – im negativen Sinn des Wortes: Die SVP hat eine üble Rolle gespielt. Was ärgerte, aber weniger überraschte war ihr Vokabular. Wer von Diktatur spricht, «alle Macht» dem Bundesrat und ähnliche falsche Bilder gebraucht, hat den Bogen in der Zuspitzung überspannt. Das macht die SVP des öftern, aber hier wurde sie noch schriller. Wozu sitzt diese Partei mit zwei Vertretern im Bundesrat?

Dieser schrille Ton kommt wohl von einem zweiten und gewichtigeren Problem. Die SVP verweigert sich einer wichtigen Aufgabe, die alle Teilnehmenden im politischen Prozess haben: Sie müssen gewisse Sachverhalte und Abläufe erklären. Natürlich ist es die Aufgabe der Politik, der Parteien, der einzelnen Exponent*innen, die Meinung der Wählerschaft zu vertreten, Anliegen aufzunehmen und diese in die Politik zu tragen. Aber hier endet die Aufgabe nicht. Wenn mir beim Unterschriftensammeln oder sonst im Gespräch ein Problem schildert oder eine Lösung vorschlägt, dann nehme ich das ernst, manchmal finde ich es aber auch wichtig zu erklären, dass eine Lösung bereits unterwegs ist oder mache die Person auf eine Konsequenz ihres Vorschlags aufmerksam und gebe mir Mühe aufzuzeigen, weshalb Prozesse so sind, wie sie heute sind. Auch das gehört zu unserer Aufgabe.

Der SVP-Generalsekretär Peter Keller sagte am Samstag im Tagesanzeiger, sie hätten mit ihrem Nein, Druck aus dem Kessel genommen. Sie hätten damit einen guten Dienst an der Demokratie geleistet, in dem sie quasi den Covid-Massnahmen-Gegner*innen eine Stimme gegeben haben. Einerseits ist das eine erstaunlich passive Argumentation und sagt ja eigentlich, dass die SVP nicht gegen das Gesetz war, sondern sich den Gegner*innen als Vehikel zur Verfügung stellt. Andererseits ist das eine groteske Verkennung der Aufgaben einer Partei. Wer den Leuten nur nach dem Mund redet, denkt nicht selber und ist nicht bereit, jene Institutionen und auch Inhalte, die sie zuvor selber mitgetragen haben, zu verteidigen und zu erklären.

Die hohe Zustimmung zum Covid 19 Gesetz ist sehr erfreulich. Wir konnten nach diesem lauten Absimmungskampf nicht damit rechnen, dass die Zustimmung noch höher ausfällt als im Juni. Das Resultat zeigt, dass ganz viele Leute diese Krise gemeinschaftlich und geduldig meistern wollen. Die Gegner*innen konnten für sich zwar viel Aufmerksamkeit erreichen, aber ihre immer schrillere Kampagne mit unglaublichen Vorwürfen und Falschmeldungen haben offensichtlich nicht verfangen. Wenn es etwas Positives in diesem Abstimmungskampf gab, dann die grundsätzlichen Diskussionen: Neben vielem Gebimmel gab es auch viele Beiträge, die sich mit dem Freiheitsbegriff befassten, mit dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft und natürlich zur Frage, auf welchen Fakten und Wissen wir uns Meinungen bilden. Und dieser Teil der Debatte hat neben allem Schrillem auch für den einen oder die andere einen Erkenntnisgewinn geliefert.

Das Kaleidoskop 40 Jahre schwuler Erfahrungen

Soll ich in den 80-Jahren beginnen? Oder doch eher schon in den 70er Jahren? Genau – bei der Telearena von 1978 zum Thema Homosexualität. Ich sass mit einem Teil der Familie vor dem Fernseher und ahnte: Das geht mich etwas an. In meiner verschwommenen Erinnerung war das in jener Zeit, in der ich die ersten erotischen Träume wahrnahm. Da war einer aus dem Blockflötenensemble und ein Schulkollege. Ich kapierte mit elf Jahren noch nicht, was das war, aber die Sendung hat mich etwas näher zur Erkenntnis gebracht. Es lohnt sich, in diese Sendung hineinzuschauen – nicht nur wegen des Formats mit zweieinhalb Stunden und einer tollen Moderation, sondern auch um einen Eindruck zum Umgang mit dem Thema zu erhalten. Viele Schwulen und Lesben sassen in der Diskussionsrunde, einige maskiert aus Angst erkannt zu werden und forderten ihre Rechte ein, klagten über erfahrene Diskriminierung am Arbeitsplatz, Mitnahme auf Polizeireviere oder Wohnungskündigungen. Mit Bibelzitaten und der richtigen gesellschaftlichen Ordnung wurde ihnen entgegengehalten. Diese Sichtweise brachte ein älterer Herr auf den Punkt, er habe noch nie gesehen, dass Homosexuelle dem Gnägi Ruedi einen Soldaten gestellt hätten. An die Reaktion oder Kommentare meiner Eltern kann ich mich nicht erinnern und wahrscheinlich habe ich die Sendung auch nicht zu Ende geschaut. Normalerweise war in der Primarschule spätestens um neun Uhr Schluss mit Fernsehen.  Im Nachhinein erstaunt es mich, dass ich da mitschauen durfte. Mein Mann erinnert sich auch an die Sendung und an ihre Wichtigkeit – und an seinen darauffolgenden Kirchgang in Winkeln St. Gallen, der Pfarrer machte die Schäfchen darauf aufmerksam, dass alle, welche die Sendung gesehen hätten und dies nicht beichten würden, eine Todsünde begingen…

Szenenwechsel ins Jahr 1983. In Luzern findet die nationale Demonstration der Homosexuellen Arbeitsgruppe Schweiz statt. Sie startete bei der Jesuitenkirche. Ich bin an diesem 25. Juni langsam an diesem Platz vorbeigefahren, wohl mit der Jutetasche umgehängt und nach einer Diskussion im 3. Welt-Laden, das war oft mein Samstagsprogramm. Mit Mitmarschieren war da aber noch nichts, dafür ein klopfendes Herz beim Blick über die Strasse. Mein Coming Out in der Familie folgte erst im darauffolgenden Jahr. Ein Blick in die Zeitungen zeigt vieles über die Atmosphäre der 80er Jahre auf, aber auch zur Medienlandschaft im damaligen Luzern. Das Vaterland als Zeitung des katholischen Luzern aber auch der Schweiz berichtete am darauffolgenden Montag mehrere Seiten lang über Schulhausjubiläen, Pfarrinstallation, Maturafeiern, das Zentralschweizer Jodlerfest, gleichzeitig über das kantonale Gesangsfest oder eine Jungbürgerfeier. In einem knapp gehaltenen Einspalter eingesperrt zwischen all den Feiern berichtete das Vaterland unterm Titel „Forderung nach weiteren Freiräumen“ über die Demo und den Forderungen. Das liberale Tagblatt hielt es ähnlich knapp, hatte aber mehr Schlagseite und titelte bereits „Es kamen weniger als erwartet“ und empörte sich mit Bild und der Unterschrift „pietätslose Aktion der Schwulen“ über einen mitgeführten Sarg, mit dem die patriarchale Institution Familie zu Tode getragen wurde. Ausführlich berichtete dagegen die Luzerner Neusten Nachrichten: Mit Bild, einem längeren Artikel, der die Forderungen aufzählte: In erster Linie ging es gegen Gewalt an Schwulen und Lesben, aber auch um die Aufhebung der Benachteiligungen im Ehebereich, das liest sich auch heute noch aktuell und erschliesst dann auch die Sargaktion. Bereits am vorangegangenen Freitag widmete die Zeitung eine ganzen Seite dem Thema. Aufschlussreich: Ein Interview mit zwei Schwulen und einer Lesben, aber ohne Namen und Foto. Zum Demonstrationsthema „Gewalt gegen Schwule – Schwule gegen Gewalt“ zeigten die Interviewten konkrete Situationen auf, in denen sie angepöbelt wurden, ihre Partnerin nicht aufs Firmenfest mitnehmen durften oder Schwule lächerlich gemacht wurden. Eine Frage – gleich wie in der Arena – fehlte im Interview nicht: Ist Gleichgeschlechtlichkeit ansteckend? Glücklicherweise ist diese Frage nach 40 Jahren aus dem Repertoire gefallen. Darunter ein längerer Artikel einer Psychologin, die für Akzeptanz und Unterstützung warb, ein aufklärerischer Text, dem man aber sein Alter heute anmerkt – verständlich.

Längst war mir klar, dass ich schwul bin, versuchte das aber zu verdrängen: In meinen Tagebüchern finden sich unzählige Einträge über Ängste und Verzweiflung, aber auch zum Beten, dass das verschwinden solle. Wie würden die Reaktionen sein, das war das eine, das andere war die fehlende Vorstellung, wie leben zwei Männer zusammen, was ist mit Familie? Es gab da ja keine Bekannte, Verwandte, Bilder oder Vorbilder. Zu seiner eigenen Identität zu finden, kann befreiend sein und macht Menschsein aus, aber der Weg dorthin ist manchmal scheusslich schwierig und dies erst recht in der Pubertät. Wohl alle kämpfen da mit dem Wohin, was wird aus mir, aber wenn das noch gekoppelt ist mit einer höchst vagen Vorstellung von rauchigen Bars, Alleinsein oder schlichter abgrundtiefer Unvorstellbarkeit, dann ist es grad nochmals erdrückender.

Wie habe ich die damalige Zeit in Erinnerung? Ein ganz wichtiger Ort war die Schule – die Kantonsschule Alpenquai. In einigen Kreisen als verruchter Ort zum Einstieg in die Drogenwelt verrufen, in Tat und Wahrheit aber eine durch und durch behäbige Institution im Luzerner Stil, im Guten wie im Schlechten. Unser Religionslehrer hatte Homosexualität im Unterricht thematisiert und ich hatte mit ihm ein Gespräch – das war sehr positiv. Ein Biologielehrer, der homosexuelle Beziehungen mit heterosexuellen gleichstellte, dies in Kürzestform: Es gehe um Beziehungen und nicht nur um eine Triebbefriedigung, sonst könne man ja gleich in ein Astloch onanieren. Ein anderer dagegen fand, das sei widernatürlich, da es im Tierreich nicht vorkomme und der Deutschlehrer wiederum sprach eher etwas gehemmt von Homophilie, die es auch noch gebe. Ich habe nicht viele Momente erlebt, in denen Homosexualität in alttestamentarischer Art verdammt wurde. Geblieben sind mir viel eher all die Sprüche, das Sich-Lustig machen. Zum Beispiel der Turnlehrer, den ich offenbar etwas angestarrt hatte und der mich mit der Frage provozierte: „Willst du meine Adresse?“ Unbeantwortbar und zerknitternd, auf alle Fälle keine Hilfestellung. Oder ein ferner Bekannte, der mich an der Fasnacht fragte: „Bisch au schwul?“ Worauf ich entgeistert nein sagte. Er schätzte die Situation durchaus richtig ein, nahm meine Verängstigung wahr und entschuldigte sich, bisher hätten alle ja gesagt. Immerhin – aber hilfreich war auch das nicht.

Das Coming Out in der Familie hatte mehrere Seiten. Einen schweigenden Vater, was sich aber nicht ablehnend anfühlte, eine Mutter, die zuerst noch auf einen Richtungswechsel hoffte und Geschwister mit ihren Partner*innen, die mich toll unterstützten. Letztlich war es viel einfacher, als in diesen Angstmomenten vorgestellt.

1987 war dann fertig mit Schule. Der Moment, um den Schulfreund*innen (nein hier falsch: Schulfreundinnen) vom Schwulsein zu erzählen. Das tat gut und ging auch gut. Ich bin durchwegs auf Verständnis und Unterstützung gestossen. Wenn man heute oft von Rissen in der Gesellschaft spricht und Unverständnis zwischen einzelnen Gruppen, so werden die früheren Unterschiede ausgeblendet. Gerade für Schwule und Lesben waren die Lebensumstände in Städten oder auf dem Land in dieser Zeit viel unterschiedlicher als heute, es kam enorm darauf an, in welchen Kreisen mann und frau unterwegs war. Dann gings auch noch in die RS. Eine üble und stumpfsinnige Zeit. Hier wird sie nur erwähnt, weil in den Jahren nach der RS ein beträchtlicher Teil der Kompanie nach und nach im schwullesbischen Treffpunkt Uferlos auftauchte. Dass die alle auf Männer standen, wusste ich mit einer Ausnahme von keinem. Was für eine Heimlichtuerei. Aber vielleicht habe ich auch das eine oder andere in meiner jugendlichen Naivität nicht gecheckt.

Die 90er Jahren – wie war die gesellschaftliche Atmosphäre? Filme zum Schwulsein kamen im grossen Kino an. Wir sassen in den Polstersesseln und sahen nach den Studiofilmen der 80er Jahren herzerwärmende Coming Out-Geschichten. Das lesbischschwule Leben in Luzern kam aus der Schmuddelecke heraus. Der Treffpunkt an der Zürichstrasse ein Stock über der Gassenküche war sinnbildlich für die 80er Jahre – man fand im Aussenseiterbereich einen Platz. Mir war das Rägebogezentrum lieb und teuer, hatte ich dort den Anschluss an die Schwule Jugendgruppe „Why not“ gefunden. Ein wichtiger Ort, an dem viele junge Männer Kontakte knüpfen konnten, Freundschaften und Beziehungen entstanden. Dann kam am Geissensteinring das Uferlos mit einem breiten Leben von Treffs und Partys. Ich erinnere mich an grosse Partys, lange Abende im Ausgang, Kopfschmerzen am nächsten Tag. Ich war schon in meinen jungen Jahren komplett ungeeignet für diese Spätabend-Ausgehzeiten, wo erst um 22 Uhr aufgemacht wurde, dann noch Happy Hour war und erst um Mitternacht der Betrieb Fahrt aufnahm. Und natürlich wichtig in den 90ern: Die Gründung der Grüsch, den Grünen Schwulen. Heute unvorstellbar, aber wir gründeten diese rein schwule Gruppierung! Unser politisches Programm schrieben wir in einer Broschüre nieder. Wer sie heute liest, bekommt einen Eindruck der Langsamkeit der Politik – Ehe für Alle, Diskriminierungsschutz und Adoptionsrecht waren drin inklusive ausformulierte Vorschläge. Auch bei den Wahlen kandidierten Schwule und Lesben um explizit ihre Rechte einzufordern. 1999 wurde ich Präsident des Einwohnerrates – die SVP inszenierte eine Kampagne gegen mich. Öffentlich beteuerten alle, dass das nichts damit zu habe, dass ich der erste offen schwul lebende Präsident würde. Die SVP verwies lieber auf meine Unfähigkeit, bei einer Gallivater-Abholung oder am 1. August eine gute Rede zu halten. Der Beigeschmack blieb doch hängen. Es kam ja dann alles gut und die Empörung über diesen Angriff war breit. Noch heute erinnern sich die Zünftler positiv an meinen Auftritt… und auch sonst: Das war ein tolles Jahr.

Eher anekdotisch, aber wichtig für diese Zeit: Wie verhielt sich die Kirche? Auch in diesen Fragen war die Spaltung zwischen einer offiziellen Weltkirche und der Kirche vor Ort eklatant. Als der Vatikan Anfang der 90er Jahre einen neuen Katechismus herausgab, trat ich aus der katholischen Kirche aus. Homosexuelle Menschen wurden zwar nicht verurteilt, aber nur so lange sie ihre Sexualität nicht auslebten. Da war kein Fortschritt greifbar. Der zuständige Pfarrer wollte mich dann in einem Telefongespräch vom Austritt abhalten, was er redlich machte, aber es klang doch etwas nach „wir haben noch ganz andere in der Kirche“. Das Erstaunlichste kam am Schluss: Zur Verabschiedung wünschte er mir ein erfülltes Sexualleben – ich war dann doch zu verdattert, um ihm „Gleichfalls“ zu wünschen. Daneben gab es in der Kirche aber viele engagierte Menschen, die sich für eine Gleichstellung und Gleichberechtigung einsetzten. Übrigens – 2002 bin ich der reformierten Kirche beigetreten.

Die Nuller Jahre? Vor über 20 Jahren lernte ich Thom Schlepfer kennen – es gab auch andere Highlights in diesem Jahrzehnt, aber keines übertraf dieses! Später folgte der Abstimmungskampf für das Partnerschaftsgesetz. 2006 sagte die Bevölkerung mit 58 Prozent Stimmen bereits klar JA zu diesem Gesetz. Die zustimmenden und ablehnenden Parteien waren die gleichen wie heute zur Ehe für alle. SVP und die evangelischen Parteien sagten nein, die 

anderen Ja. Ich erwähne dies, weil in der Diskussion zur Ehe für alle sicher oft wieder gesagt wird, wir hätten doch die eingetragene Partnerschaft und es brauche keine weitere Gleichstellung. In ihrer Argumentation betonten die Gegner*innen die Exklusivität der Ehe in ihrer „Fortpflanzungs- und Erziehungsfunktion“. Deshalb – und nicht weil sie die Verbindung zweier Erwachsenen definiere – solle sie vom Staat unterstützt und gefördert werden. Gleichgeschlechtlich liebende würden nicht mehr ausgegrenzt, weshalb diese rechtliche Regelung unnötig sein. Das war etwas unlogisch, denn die Gegner*innen produzierten damit gleich wieder eine Ausgrenzung, aber es klang schon damals altbacken. In meiner Erinnerung gab es einen bunten Abstimmungskampf, aber es war keine Jahrhundertabstimmung – das Anliegen war breit anerkannt. Das zeigten auch mehrere SVP-Sektionen, die eine JA-Parole beschlossen (neben einigen CVP-Sektionen, die allerdings Nein sagten.) Das war auch nicht verwunderlich: Viele Länder in Europa hatten schon längst eine Regelung getroffen, die ersten bereits die Ehe für alle geöffnet. Und die gesellschaftliche Akzeptanz war weit fortgeschrittener als noch zehn oder gar 20 Jahre zuvor. Es war normal, dass mein Mann und ich uns an Anlässen begleiteten.

Eine weitere Episode erlebte ich am Anfang der 2010er Jahre. Ich wohnte im Unter-Strick mit einer Familie mit zwei Kindern zusammen. Thom war üblicherweise am Samstagabend mit am Tisch – wir wohnten und wohnen nicht zusammen. Einmal fragte der vielleicht achtjährige Sohn, wie das mit uns zweien sei, was wir zueinander seien. Wir hatten uns nie überlegt, was wir dann antworteten. Ich erklärte ihm, das sei bei uns wie bei seinem Mami und Papi. Er schaute mich und Thom dann lange an – ich deklinierte schon durch, was jetzt alles kommen könnte – und dann meinte er, dass dies nicht sein könne, denn wir hätten ja keinen Ring am Finger. Wir lachten herzhaft und merkten uns aber auch: Die Ehe bringt nicht nur handfeste rechtliche Regelungen mit sich, sondern ruft auch viele Bilder hervor, die wiederum Wahrnehmungen prägen.

Und dann begann die endlose Debatte um die Ehe für alle. Gutachten. Verschiebungen. Dabei zeigte sich klar: Das Parlament war zögerlicher als die Bevölkerung. Umfragen zeigten, dass die Ehe für alle klar befürwortet wurde – etwa in einer gfs Umfrage im Jahr 2015: Die Zustimmung lag bei 71 Prozent. Jetzt stehen wir zu Beginn des Abstimmungskampfes – das Referendum ist zu Stande gekommen. Ich glaube nicht, dass uns dieser Abstimmungskampf weitere Erkenntnisse bringen wird, aber vielleicht ist er doch gut: Damit die hohen Umfragewerte auch in einem klaren JA an der Urne bestätigt werden.

 

Was ziehe ich aus diesen Erinnerungen?

Mainstream oder was auch immer: Lieber in der Mitte der Gesellschaft als am Rande

Wer sich die Geschichten aus den 70er oder 80er Jahren in Erinnerung ruft, sieht den gewaltigen Fortschritt den es für eine gesellschaftliche Liberalisierung gab. In keinem anderen Bereich sonst hat sich so viel bewegt. Einige rechtspopulistische Medien und Politiker*innen rümpfen jetzt die Nase und wedeln mit Begriffen wie Mainstream oder konkreter mit dem Gender-Mainstreaming. Dazu kann ich nur sagen: Ich bin unendlich froh, haben wir den Mief dieser Jahre hinter uns gelassen und ich bin gerne in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ja, es darf sogar noch etwas mittiger werden.

Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die sich in den letzten Jahrzehnten und heute für diese gesellschaftliche Veränderung und die Gleichstellung eingesetzt haben!  Ohne all diesen persönlichen Einsatz politisch aber vor allem auch privat könnten wir nicht über die Ehe für alle abstimmen.

Quellen:

Telearena 12. April 1978 https://www.youtube.com/watch?v=otTIJFGLndY&t=3079s

LNN, 24. / 27. Juni 1985, Landesbibliothek

Vaterland, 27. Juni 1985, Landesbibliothek

Tagblatt, 27. Juni 1985

Foto Uferlos https://www.facebook.com/uferlosluzern

Broschüre „Grün heisst auch gleichberechtigt gleichgeschlechtlich“ 1995

Bild Partnerschaftsgesetz https://swissvotes.ch/vote/518.00