Das Kaleidoskop 40 Jahre schwuler Erfahrungen

Soll ich in den 80-Jahren beginnen? Oder doch eher schon in den 70er Jahren? Genau – bei der Telearena von 1978 zum Thema Homosexualität. Ich sass mit einem Teil der Familie vor dem Fernseher und ahnte: Das geht mich etwas an. In meiner verschwommenen Erinnerung war das in jener Zeit, in der ich die ersten erotischen Träume wahrnahm. Da war einer aus dem Blockflötenensemble und ein Schulkollege. Ich kapierte mit elf Jahren noch nicht, was das war, aber die Sendung hat mich etwas näher zur Erkenntnis gebracht. Es lohnt sich, in diese Sendung hineinzuschauen – nicht nur wegen des Formats mit zweieinhalb Stunden und einer tollen Moderation, sondern auch um einen Eindruck zum Umgang mit dem Thema zu erhalten. Viele Schwulen und Lesben sassen in der Diskussionsrunde, einige maskiert aus Angst erkannt zu werden und forderten ihre Rechte ein, klagten über erfahrene Diskriminierung am Arbeitsplatz, Mitnahme auf Polizeireviere oder Wohnungskündigungen. Mit Bibelzitaten und der richtigen gesellschaftlichen Ordnung wurde ihnen entgegengehalten. Diese Sichtweise brachte ein älterer Herr auf den Punkt, er habe noch nie gesehen, dass Homosexuelle dem Gnägi Ruedi einen Soldaten gestellt hätten. An die Reaktion oder Kommentare meiner Eltern kann ich mich nicht erinnern und wahrscheinlich habe ich die Sendung auch nicht zu Ende geschaut. Normalerweise war in der Primarschule spätestens um neun Uhr Schluss mit Fernsehen.  Im Nachhinein erstaunt es mich, dass ich da mitschauen durfte. Mein Mann erinnert sich auch an die Sendung und an ihre Wichtigkeit – und an seinen darauffolgenden Kirchgang in Winkeln St. Gallen, der Pfarrer machte die Schäfchen darauf aufmerksam, dass alle, welche die Sendung gesehen hätten und dies nicht beichten würden, eine Todsünde begingen…

Szenenwechsel ins Jahr 1983. In Luzern findet die nationale Demonstration der Homosexuellen Arbeitsgruppe Schweiz statt. Sie startete bei der Jesuitenkirche. Ich bin an diesem 25. Juni langsam an diesem Platz vorbeigefahren, wohl mit der Jutetasche umgehängt und nach einer Diskussion im 3. Welt-Laden, das war oft mein Samstagsprogramm. Mit Mitmarschieren war da aber noch nichts, dafür ein klopfendes Herz beim Blick über die Strasse. Mein Coming Out in der Familie folgte erst im darauffolgenden Jahr. Ein Blick in die Zeitungen zeigt vieles über die Atmosphäre der 80er Jahre auf, aber auch zur Medienlandschaft im damaligen Luzern. Das Vaterland als Zeitung des katholischen Luzern aber auch der Schweiz berichtete am darauffolgenden Montag mehrere Seiten lang über Schulhausjubiläen, Pfarrinstallation, Maturafeiern, das Zentralschweizer Jodlerfest, gleichzeitig über das kantonale Gesangsfest oder eine Jungbürgerfeier. In einem knapp gehaltenen Einspalter eingesperrt zwischen all den Feiern berichtete das Vaterland unterm Titel „Forderung nach weiteren Freiräumen“ über die Demo und den Forderungen. Das liberale Tagblatt hielt es ähnlich knapp, hatte aber mehr Schlagseite und titelte bereits „Es kamen weniger als erwartet“ und empörte sich mit Bild und der Unterschrift „pietätslose Aktion der Schwulen“ über einen mitgeführten Sarg, mit dem die patriarchale Institution Familie zu Tode getragen wurde. Ausführlich berichtete dagegen die Luzerner Neusten Nachrichten: Mit Bild, einem längeren Artikel, der die Forderungen aufzählte: In erster Linie ging es gegen Gewalt an Schwulen und Lesben, aber auch um die Aufhebung der Benachteiligungen im Ehebereich, das liest sich auch heute noch aktuell und erschliesst dann auch die Sargaktion. Bereits am vorangegangenen Freitag widmete die Zeitung eine ganzen Seite dem Thema. Aufschlussreich: Ein Interview mit zwei Schwulen und einer Lesben, aber ohne Namen und Foto. Zum Demonstrationsthema „Gewalt gegen Schwule – Schwule gegen Gewalt“ zeigten die Interviewten konkrete Situationen auf, in denen sie angepöbelt wurden, ihre Partnerin nicht aufs Firmenfest mitnehmen durften oder Schwule lächerlich gemacht wurden. Eine Frage – gleich wie in der Arena – fehlte im Interview nicht: Ist Gleichgeschlechtlichkeit ansteckend? Glücklicherweise ist diese Frage nach 40 Jahren aus dem Repertoire gefallen. Darunter ein längerer Artikel einer Psychologin, die für Akzeptanz und Unterstützung warb, ein aufklärerischer Text, dem man aber sein Alter heute anmerkt – verständlich.

Längst war mir klar, dass ich schwul bin, versuchte das aber zu verdrängen: In meinen Tagebüchern finden sich unzählige Einträge über Ängste und Verzweiflung, aber auch zum Beten, dass das verschwinden solle. Wie würden die Reaktionen sein, das war das eine, das andere war die fehlende Vorstellung, wie leben zwei Männer zusammen, was ist mit Familie? Es gab da ja keine Bekannte, Verwandte, Bilder oder Vorbilder. Zu seiner eigenen Identität zu finden, kann befreiend sein und macht Menschsein aus, aber der Weg dorthin ist manchmal scheusslich schwierig und dies erst recht in der Pubertät. Wohl alle kämpfen da mit dem Wohin, was wird aus mir, aber wenn das noch gekoppelt ist mit einer höchst vagen Vorstellung von rauchigen Bars, Alleinsein oder schlichter abgrundtiefer Unvorstellbarkeit, dann ist es grad nochmals erdrückender.

Wie habe ich die damalige Zeit in Erinnerung? Ein ganz wichtiger Ort war die Schule – die Kantonsschule Alpenquai. In einigen Kreisen als verruchter Ort zum Einstieg in die Drogenwelt verrufen, in Tat und Wahrheit aber eine durch und durch behäbige Institution im Luzerner Stil, im Guten wie im Schlechten. Unser Religionslehrer hatte Homosexualität im Unterricht thematisiert und ich hatte mit ihm ein Gespräch – das war sehr positiv. Ein Biologielehrer, der homosexuelle Beziehungen mit heterosexuellen gleichstellte, dies in Kürzestform: Es gehe um Beziehungen und nicht nur um eine Triebbefriedigung, sonst könne man ja gleich in ein Astloch onanieren. Ein anderer dagegen fand, das sei widernatürlich, da es im Tierreich nicht vorkomme und der Deutschlehrer wiederum sprach eher etwas gehemmt von Homophilie, die es auch noch gebe. Ich habe nicht viele Momente erlebt, in denen Homosexualität in alttestamentarischer Art verdammt wurde. Geblieben sind mir viel eher all die Sprüche, das Sich-Lustig machen. Zum Beispiel der Turnlehrer, den ich offenbar etwas angestarrt hatte und der mich mit der Frage provozierte: „Willst du meine Adresse?“ Unbeantwortbar und zerknitternd, auf alle Fälle keine Hilfestellung. Oder ein ferner Bekannte, der mich an der Fasnacht fragte: „Bisch au schwul?“ Worauf ich entgeistert nein sagte. Er schätzte die Situation durchaus richtig ein, nahm meine Verängstigung wahr und entschuldigte sich, bisher hätten alle ja gesagt. Immerhin – aber hilfreich war auch das nicht.

Das Coming Out in der Familie hatte mehrere Seiten. Einen schweigenden Vater, was sich aber nicht ablehnend anfühlte, eine Mutter, die zuerst noch auf einen Richtungswechsel hoffte und Geschwister mit ihren Partner*innen, die mich toll unterstützten. Letztlich war es viel einfacher, als in diesen Angstmomenten vorgestellt.

1987 war dann fertig mit Schule. Der Moment, um den Schulfreund*innen (nein hier falsch: Schulfreundinnen) vom Schwulsein zu erzählen. Das tat gut und ging auch gut. Ich bin durchwegs auf Verständnis und Unterstützung gestossen. Wenn man heute oft von Rissen in der Gesellschaft spricht und Unverständnis zwischen einzelnen Gruppen, so werden die früheren Unterschiede ausgeblendet. Gerade für Schwule und Lesben waren die Lebensumstände in Städten oder auf dem Land in dieser Zeit viel unterschiedlicher als heute, es kam enorm darauf an, in welchen Kreisen mann und frau unterwegs war. Dann gings auch noch in die RS. Eine üble und stumpfsinnige Zeit. Hier wird sie nur erwähnt, weil in den Jahren nach der RS ein beträchtlicher Teil der Kompanie nach und nach im schwullesbischen Treffpunkt Uferlos auftauchte. Dass die alle auf Männer standen, wusste ich mit einer Ausnahme von keinem. Was für eine Heimlichtuerei. Aber vielleicht habe ich auch das eine oder andere in meiner jugendlichen Naivität nicht gecheckt.

Die 90er Jahren – wie war die gesellschaftliche Atmosphäre? Filme zum Schwulsein kamen im grossen Kino an. Wir sassen in den Polstersesseln und sahen nach den Studiofilmen der 80er Jahren herzerwärmende Coming Out-Geschichten. Das lesbischschwule Leben in Luzern kam aus der Schmuddelecke heraus. Der Treffpunkt an der Zürichstrasse ein Stock über der Gassenküche war sinnbildlich für die 80er Jahre – man fand im Aussenseiterbereich einen Platz. Mir war das Rägebogezentrum lieb und teuer, hatte ich dort den Anschluss an die Schwule Jugendgruppe „Why not“ gefunden. Ein wichtiger Ort, an dem viele junge Männer Kontakte knüpfen konnten, Freundschaften und Beziehungen entstanden. Dann kam am Geissensteinring das Uferlos mit einem breiten Leben von Treffs und Partys. Ich erinnere mich an grosse Partys, lange Abende im Ausgang, Kopfschmerzen am nächsten Tag. Ich war schon in meinen jungen Jahren komplett ungeeignet für diese Spätabend-Ausgehzeiten, wo erst um 22 Uhr aufgemacht wurde, dann noch Happy Hour war und erst um Mitternacht der Betrieb Fahrt aufnahm. Und natürlich wichtig in den 90ern: Die Gründung der Grüsch, den Grünen Schwulen. Heute unvorstellbar, aber wir gründeten diese rein schwule Gruppierung! Unser politisches Programm schrieben wir in einer Broschüre nieder. Wer sie heute liest, bekommt einen Eindruck der Langsamkeit der Politik – Ehe für Alle, Diskriminierungsschutz und Adoptionsrecht waren drin inklusive ausformulierte Vorschläge. Auch bei den Wahlen kandidierten Schwule und Lesben um explizit ihre Rechte einzufordern. 1999 wurde ich Präsident des Einwohnerrates – die SVP inszenierte eine Kampagne gegen mich. Öffentlich beteuerten alle, dass das nichts damit zu habe, dass ich der erste offen schwul lebende Präsident würde. Die SVP verwies lieber auf meine Unfähigkeit, bei einer Gallivater-Abholung oder am 1. August eine gute Rede zu halten. Der Beigeschmack blieb doch hängen. Es kam ja dann alles gut und die Empörung über diesen Angriff war breit. Noch heute erinnern sich die Zünftler positiv an meinen Auftritt… und auch sonst: Das war ein tolles Jahr.

Eher anekdotisch, aber wichtig für diese Zeit: Wie verhielt sich die Kirche? Auch in diesen Fragen war die Spaltung zwischen einer offiziellen Weltkirche und der Kirche vor Ort eklatant. Als der Vatikan Anfang der 90er Jahre einen neuen Katechismus herausgab, trat ich aus der katholischen Kirche aus. Homosexuelle Menschen wurden zwar nicht verurteilt, aber nur so lange sie ihre Sexualität nicht auslebten. Da war kein Fortschritt greifbar. Der zuständige Pfarrer wollte mich dann in einem Telefongespräch vom Austritt abhalten, was er redlich machte, aber es klang doch etwas nach „wir haben noch ganz andere in der Kirche“. Das Erstaunlichste kam am Schluss: Zur Verabschiedung wünschte er mir ein erfülltes Sexualleben – ich war dann doch zu verdattert, um ihm „Gleichfalls“ zu wünschen. Daneben gab es in der Kirche aber viele engagierte Menschen, die sich für eine Gleichstellung und Gleichberechtigung einsetzten. Übrigens – 2002 bin ich der reformierten Kirche beigetreten.

Die Nuller Jahre? Vor über 20 Jahren lernte ich Thom Schlepfer kennen – es gab auch andere Highlights in diesem Jahrzehnt, aber keines übertraf dieses! Später folgte der Abstimmungskampf für das Partnerschaftsgesetz. 2006 sagte die Bevölkerung mit 58 Prozent Stimmen bereits klar JA zu diesem Gesetz. Die zustimmenden und ablehnenden Parteien waren die gleichen wie heute zur Ehe für alle. SVP und die evangelischen Parteien sagten nein, die 

anderen Ja. Ich erwähne dies, weil in der Diskussion zur Ehe für alle sicher oft wieder gesagt wird, wir hätten doch die eingetragene Partnerschaft und es brauche keine weitere Gleichstellung. In ihrer Argumentation betonten die Gegner*innen die Exklusivität der Ehe in ihrer „Fortpflanzungs- und Erziehungsfunktion“. Deshalb – und nicht weil sie die Verbindung zweier Erwachsenen definiere – solle sie vom Staat unterstützt und gefördert werden. Gleichgeschlechtlich liebende würden nicht mehr ausgegrenzt, weshalb diese rechtliche Regelung unnötig sein. Das war etwas unlogisch, denn die Gegner*innen produzierten damit gleich wieder eine Ausgrenzung, aber es klang schon damals altbacken. In meiner Erinnerung gab es einen bunten Abstimmungskampf, aber es war keine Jahrhundertabstimmung – das Anliegen war breit anerkannt. Das zeigten auch mehrere SVP-Sektionen, die eine JA-Parole beschlossen (neben einigen CVP-Sektionen, die allerdings Nein sagten.) Das war auch nicht verwunderlich: Viele Länder in Europa hatten schon längst eine Regelung getroffen, die ersten bereits die Ehe für alle geöffnet. Und die gesellschaftliche Akzeptanz war weit fortgeschrittener als noch zehn oder gar 20 Jahre zuvor. Es war normal, dass mein Mann und ich uns an Anlässen begleiteten.

Eine weitere Episode erlebte ich am Anfang der 2010er Jahre. Ich wohnte im Unter-Strick mit einer Familie mit zwei Kindern zusammen. Thom war üblicherweise am Samstagabend mit am Tisch – wir wohnten und wohnen nicht zusammen. Einmal fragte der vielleicht achtjährige Sohn, wie das mit uns zweien sei, was wir zueinander seien. Wir hatten uns nie überlegt, was wir dann antworteten. Ich erklärte ihm, das sei bei uns wie bei seinem Mami und Papi. Er schaute mich und Thom dann lange an – ich deklinierte schon durch, was jetzt alles kommen könnte – und dann meinte er, dass dies nicht sein könne, denn wir hätten ja keinen Ring am Finger. Wir lachten herzhaft und merkten uns aber auch: Die Ehe bringt nicht nur handfeste rechtliche Regelungen mit sich, sondern ruft auch viele Bilder hervor, die wiederum Wahrnehmungen prägen.

Und dann begann die endlose Debatte um die Ehe für alle. Gutachten. Verschiebungen. Dabei zeigte sich klar: Das Parlament war zögerlicher als die Bevölkerung. Umfragen zeigten, dass die Ehe für alle klar befürwortet wurde – etwa in einer gfs Umfrage im Jahr 2015: Die Zustimmung lag bei 71 Prozent. Jetzt stehen wir zu Beginn des Abstimmungskampfes – das Referendum ist zu Stande gekommen. Ich glaube nicht, dass uns dieser Abstimmungskampf weitere Erkenntnisse bringen wird, aber vielleicht ist er doch gut: Damit die hohen Umfragewerte auch in einem klaren JA an der Urne bestätigt werden.

 

Was ziehe ich aus diesen Erinnerungen?

Mainstream oder was auch immer: Lieber in der Mitte der Gesellschaft als am Rande

Wer sich die Geschichten aus den 70er oder 80er Jahren in Erinnerung ruft, sieht den gewaltigen Fortschritt den es für eine gesellschaftliche Liberalisierung gab. In keinem anderen Bereich sonst hat sich so viel bewegt. Einige rechtspopulistische Medien und Politiker*innen rümpfen jetzt die Nase und wedeln mit Begriffen wie Mainstream oder konkreter mit dem Gender-Mainstreaming. Dazu kann ich nur sagen: Ich bin unendlich froh, haben wir den Mief dieser Jahre hinter uns gelassen und ich bin gerne in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ja, es darf sogar noch etwas mittiger werden.

Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die sich in den letzten Jahrzehnten und heute für diese gesellschaftliche Veränderung und die Gleichstellung eingesetzt haben!  Ohne all diesen persönlichen Einsatz politisch aber vor allem auch privat könnten wir nicht über die Ehe für alle abstimmen.

Quellen:

Telearena 12. April 1978 https://www.youtube.com/watch?v=otTIJFGLndY&t=3079s

LNN, 24. / 27. Juni 1985, Landesbibliothek

Vaterland, 27. Juni 1985, Landesbibliothek

Tagblatt, 27. Juni 1985

Foto Uferlos https://www.facebook.com/uferlosluzern

Broschüre „Grün heisst auch gleichberechtigt gleichgeschlechtlich“ 1995

Bild Partnerschaftsgesetz https://swissvotes.ch/vote/518.00

Graben? Historisch gesehen ist das höchstens ein Gräbli

Was wird jetzt wieder alles von Gräben gesprochen! Überall tun sie sich auf. Grösser als jene nach den Unwettern: Stadt und Land entfremden sich. Und dies ausgerechnet am 1. August, wo die SVP selbsternannt zur Sprecherin der Landschaften mutierte.

Das Thema ist mindestens seit den Juniabstimmungen durch den Blätterwald gerauscht, allerdings taucht sie seit über 20 Jahren immer wieder auf. Besonders staunte ich über ein Gespräch mit der deutschen Schriftstellerin Juli Zeh, die in Brandenburg auf dem Land wohnt und davon sprach, dass Städter und Menschen auf dem Land „in verschiedenen Universen leben“ oder immerhin: „Auf einem anderen Planeten“. Sie würden andere Sachen lesen, hätten andere Hobbys und die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen sei auch anders, es gebe immer weniger Durchmischung.

Einfaches Leben in den Tälern

Ich achte diese Stellungnahmen, aber: Ist das nicht etwas unhistorisch? Ich erinnere mich an eine Übung im Geschichtsstudium zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der tollen Historikerin Heidi Witzig untersuchten wir die Lebensräume von Menschen in Tessiner Bergtälern, in der Basler Oberschicht und im industriellen Zürcher Oberland.

Was mir vor allem geblieben ist: Im Tessin lebten viele Menschen noch vorwiegend ohne Geld. Sie produzierten sehr vieles, was sie zum Leben brauchten, selber: Lebensmittel, Möbel, Kleider, Geld brauchten sie für Salz, einen neuen Kupferkessel oder andere spezielle Güter. Diese gingen sie ein- oder zweimal im Jahr in einer Stadt einkaufen, verkauften dort eigene Produkte und bewegten sich dann für Monate nicht mehr aus den Seitentälern heraus. So habe ich das auch im letzten Sommer in Bosco Gurin im Museum gelesen – der 40 kilometerlange Weg nach Locarno wurde nur sehr selten unter die Füsse genommen, wobei das noch wörtlich gemeint war

Auswanderung in die Stadt für Auskommen

Zur gleichen Zeit gab es in Zürich bereits eine Börse, in den Städten kam Elektrizität auf. Was für Unterschiede! Viele mussten aus dem ländlichen Raum und Leben in die Städte auswandern, um ein Auskommen zu finden. Dort fanden sie ein völlig anderes Leben vor, mussten in Fabriken arbeiten gehen, waren in Luzern etwa als Dienstboten und -mägde in Hinterzimmern mit dem Reichtum der Oberschicht und Touristinnen und Touristen konfrontiert. Der Kontakt zur Familie auf dem Land wird spärlich gewesen sein, vielleicht ein paar Briefe – sofern das mit dem Schreiben funktionierte – sehr selten einmal ein Besuch.

Das war auch vor 60 oder 70 Jahren noch ähnlich, wer als junger Mensch «in die Stelle» musste, hatte monatelang keinen Kontakt mehr zur Familie – je nachdem ob es bereits einen Telefonanschluss zu Hause gab. Meine Eltern hatten beide eine bäuerliche Herkunft. Die Familie meines Vaters galt als liberaler – bei der Ursachenforschung fand man: Die gingen halt ab und zu in Luzern auf den Markt.

Lebenswelten rückten zusammen

Und heute sollen diese Lebenswelten weiter auseinander liegen? Wo alle am Abend die gleichen Serien schauen? Die gleiche Aktion in der Migros einkaufen? Ein schöner Teil der Landbevölkerung in städtischen Agglomerationen arbeiten? Oder Städterinnen fürs Wochenende aufs Land fahren? Wo die Vorgärten in den Agglomerationen gleich aussehen wie auf dem Land? Und die gleichen Autos vor den Garagen stehen? Bitte schön, diese Theorie der verschiedenen Planeten geht doch komplett an der Realität vorbei.

Der Stadt-Land-Graben wurde ja vor allem nach den letzten Abstimmungen bemüht. Das ist aber kein neues Phänomen. Ich habe willkürlich einige Abstimmungen verglichen. Je nach Thema konnten die Unterschiede bereits früher total markant sein. So etwa bei einer Initiative gegen Bodenspekulation im Jahr 1967, die in Genf angenommen wurde, in Obwalden aber nur 4.5 Prozent JA-Stimmen holte. Oder die sogenannte Fronteninitiative: Sie forderte 1935 eine Totalrevision der Bundesverfassung nach dem Geschmack frontistischer und rechtskonservativer Kreise. Im katholischen Freiburg wurde sie mit 55 Prozent angenommen, im liberalen reformierten Kanton Baselland dagegen mit 87 Prozent abgelehnt.

Sachfragen statt abstrakte Diskussionen

Was richtig ist: Die Befindlichkeiten und der Standpunkt für die Betrachtung eines Themas ist neben anderen Faktoren auch davon abhängig, ob man auf dem Land oder im städtischen Bereich wohnt. Dass eine Agrarinitiative deshalb unterschiedlich beurteilt wird, ist nicht grad erstaunlich. Ebenso bei Verkehrsthemen, der eine will möglichst ohne Hindernisse in die Stadt fahren, jemand anders wohnt dort und nervt sich über den Lärm. Sollte das jemanden erstaunen? Dass sich dann solche Meinungen in einem Milieu festigen und gegenseitig verstärken, ist auch nachvollziehbar.

Das heisst für mich: Diskutieren wir die Sachfragen, vielleicht lohnt es sich auch einmal, den Standpunkt des Gegenübers einzunehmen und die Sache aus seiner Sicht zu betrachten. Aber lassen wir ab von einer abstrakten Stadt-Land-Diskussion.

Aus meinen Blog auf Zentralplus https://www.zentralplus.ch/blog/politblog/historisch-gesehen-ist-es-hoechstens-ein-graebli/

Weshalb es ein JA zum Covid 19 Gesetz braucht

Covid 19 hat uns überrollt und eine Krise ausgelöst, wie wir sie so nicht erwartet haben. Wir mussten sehr rasch handeln. Neben den medizinischen Herausforderungen brauchten wir Hilfestellungen für die Menschen, für Unternehmen und ganze Branchen. Die Möglichkeit zur Kurzarbeit wurde ausgebaut, Unternehmen erhielten Kredite und Beiträge, Selbständigerwerbende eine Entschädigung oder Künstlerinnen und Künstler wie die Eventunternehmen brauchen Unterstützung. All diese Hilfen regelt das Covid 19 Gesetz. Nicht immer ging das problemlos über die Bühne, manche Hilfe kam zu spät, aber letztlich haben Bundesrat und Parlament hier absolut wichtige Arbeit geleistet und dies im demokratischen Prozess.

Mit einem Nein würden all diese Hilfen auf einen Schlag wegfallen. Alle hoffen, dass wir möglichst bald die Pandemie überwinden können, doch niemand kann heute beurteilen, wie lange wir noch auf diese Hilfen angewiesen sind. Das Ärgerlichste wäre dann: Braucht es doch weitere Massnahmen, so müsste der Bundesrat diese via Notrecht wieder einführen. Doch genau dieses Notrecht bemängeln die Anhänger des Referendums – eine absurde Situation!

Kommt hinzu: Gerade jene Massnahmen, die am meisten zu Diskussionen Anlass geben, haben mit dem Covid 19 Gesetz nichts zu tun.  Die Schliessung der Restaurants, Maskentragpflicht oder die Frage des Impfens haben ihre Grundlage im Epidemiengesetz. Dieses wurde 2013 in einer Volksabstimmung klar angenommen.

Für eine weitere derartige Krisensituation können und müssen wir die jetzige Arbeit auswerten und allfällig Verbesserungen vornehmen. Doch jetzt gilt es: Der eingeschlagene Weg weitergehen und sicher nicht die Hilfen aufs Spiel setzen. So können wir die Pandemie mit möglichst wenig weiteren Opfer durchstehen. Und mit einem Ja zum Covid 19 Gesetz stützen wir all jene, die wirtschaftlich unter der Pandemie leiden.

Für eine konkrete Debatte statt dem Cancel-Vorwurfshammer

Schauspieler*innen, die sich mit Satire über Corona-Massnahmen lustig machen, Adolf Muschg, der eine Cancel Culture in der Schweiz ausmacht und diese mit Auschwitz vergleicht: Beides hat starke Reaktionen ausgelöst. Widerrede, Empörung, aber insbesondere hierzulande gab es auch viel Zustimmung und eher: Empörung über die Empörung. Die Diskussion über eine sogenannte Cancel Culture schwappt sein einigen Monaten vermehrt durch die Schweiz: Aber was steckt dahinter? Und: Wer cancelt wen?

Selbst der „neue“ Nebelspalter hält fest: Das Phänomen sei in der Schweiz noch nicht so stark vertreten – nur solle man sich nicht zu sicher sein, schiebt er vorsorglich nach. Und welche Beispiele kommen? Die Klimadiskussion sei verengt wie auch jene über Corona. Das war von einem Nebelspalter zu erwarten und da wurde nicht viel Hirnschmalz für eine Analyse verwendet. Ein Philosophieprofessor nennt im Artikel als Beispiel den Gesundheitswissenschaftler John Ioannidis. Er werde verleumdet. Ein schlechtes Beispiel, denn seine Thesen wurden in den Medien breit diskutiert. Nur: Sehr viele andere Wissenschaftler*innen und die meisten Journalist*innen teilen seine Schlussfolgerungen nicht. Gerade Journalismus hat die Aufgabe, Meinungen darzustellen, sie aber auch einzuordnen oder vor allem den Leser*innen Hilfen anzubieten, dies selber machen zu können. Nur weil eine Meinung nicht mehrheitlich mitgetragen wird, kann sich der Autor oder die Autorin noch kein Cancel-Schild umhängen.

Weiter wird im Nebelspalter ausgeführt, dass schon Auftritte sabotiert wurden, vor einem Jahr zum Beispiel von einem libertären Ökonomen. Ok, etwas mehr Gelassenheit und die Auseinandersetzung suchen, könnte richtig sein. Nur: Ist das jetzt das einzige Beispiel? Offensichtlich ist es schwierig, zum Beweis einer neuen Tendenz auch etwas Substanz respektive Fälle in die Diskussion zu bringen. Ja und ist es denn etwas Neues, dass jemandem ein Auftritt verweigert wird? Wer sich heute darüber entsetzt, war mit einiger Wahrscheinlichkeit früher daran beteiligt, dass andere schon gar nie eine Auftrittsmöglichkeit erhalten hat. Siehe zum Beispiel Andi Gross als Präsident der GSOA, der in der Universität Zürich unerwünscht war. Und siehe auch all die Menschen, denen während des Kalten Krieges der Mund verboten wurde, vor- und verurteilt wurden.

Aber wurden die 50 Schauspieler*innen in Deutschland gecancelt, da sie ihre Statements ins Internet stellten? Ein unüberlegtes Video, das kann es geben. Schwamm drüber. Aber diese Aktion war geplant, koordiniert und sie hatte doch gerade den Sinn, eine Reaktion auszulösen. In der Luzerner Zeitung wurde dafür plädiert, „die Vieldeutigkeit zu erkunden“. Ich habe mir einige angeschaut. In einem kontextlosen Raum sind einige ja noch lustig. Nur: Sie hatten eben einen sehr konkreten Kontext – sie alle verbindet die Kritik an den Coronamassnahmen. Jetzt fielen die Reaktionen negativ – teilweise auch sehr hart – aus. Diese Reaktionen dann aber gleich als faschistoid zu bezeichnen, wie geschehen, ist eine groteske Umkehr von Ursache und Wirkung. Ist es nicht viel einfacher und muss man diesen Schauspieler*innen schlicht sagen: Selber tschuld?

Und wie ist es mit Adolf Muschg? Da kann ich nur sagen: Wer mit Auschwitz-Vergleichen um sich wirft und dann treuherzig findet, das sei aus dem Zusammenhang gerissen und man möge bitte die ganze Sendung hören, ist ebenfalls ganz selber verantwortlich für die Verengung der Diskussion.

Gecancelt fühlte sich auch eine Teilnehmerin der EDU bei einem Podium an der Luzerner Hochschule für soziale Arbeit über LGBTIQ+ Gleichstellungsfragen. Ja, sie wurde von den Studierenden hart angefasst und musste sich viele Fragen erlauben. Ihre Argumentation, die göttliche Ordnung käme da durcheinander, löste starkes Kopfschütteln aus und sie beklagte sich über die Reaktionen. Ist das nun ein Canceln? Oder gab es eine Verschiebung im Wertesystem? Musste jemand, der oder die in den 80er Jahren die Ehe für alle forderte, nicht mit gleich starken Reaktionen rechnen? Oder: Wahrscheinlich mit stärkeren? Damals gab es Berufsverbote für Mitglieder der POCH und Schwulenkarteien. Beklagen sich jetzt nicht auffällig viele Leute über ein Canceln, die einfach jahre- und jahrzehntelang nicht mit Gegenwind rechnen mussten oder dass sie sich für einmal in einer Minderheitsposition wiederfinden?

Gerne werden Einzelereignisse überhöht, wie beim Aufschrei, als eine Bank dem Referendumskomitee gegen die Ehe für Alle ein Bankkonto verweigerte. Ob richtig oder falsch: Das ist keine neue Cancel-Culture, sondern gängige Geschäftspraktik von Banken, mit welchen progressive Kreise schon und vor allem vor Jahrzehnten konfrontiert waren.

Ähnlich verhält es sich mit einigen bürgerlichen Politikern und einigen Medien in Bezug auf linke Stadtregierungen und Parlamente. Ach, die ziehen eigene Projekte durch? Suchen nicht den Konsens mit allen politischen Kreisen? Na sowas – hat jemand eine ähnliche Kritik gegenüber bürgerlichen Kantonsregierungen gehört, die vielerorts seit Menschengedenken am Werk sind? Auch hier gilt: Die Kritik kommt oft als Phantomschmerz von bürgerlicher Seite, die sich unverdienter- und unerklärlicherweise in manchen Fragen in einer Minderheitsposition wiederfindet. Wer vom Thron gestossen wurde, mag sich verletzt fühlen, doch er oder sie ist jetzt auf Augenhöhe mit den anderen.

Zwei Schlussfolgerungen

Natürlich gibt es Beispiele, wo jemand nicht zu Wort kommt, man ihm oder ihr nicht genau zuhört und voreilige Urteile gezogen werden. Diskutieren wir doch über diese konkreten Beispiele: Sind Fehler passiert in der Debattenkultur, im Ausschluss von Menschen? Der Erkenntnisgewinn ist dann einiges höher als die allgemeine Cancel-Diskussion, die mir in letzter Zeit als Ausweichrhetorik vorkommt für jene, denen im Konkreten die Argumente ausgegangen sind.

Was stimmt: Ja, die Diskussionen sind lauter geworden. Auf allen Seiten – das ist aber kein generelles Zeichen einer Verrohung der Debatte, sondern ein Problem der heutigen Debattenräume. Wir wissen, dass auf den sozialen Medien emotionale, laute und zugespitzte Beiträge besser bewertet werden, teils durch die Algorithmen der Anbieter gefördert und teils im Durchscrollen rascher bewertet. Wenn wir differenziertere Debatten wollen und die Lautstärke etwas runterpegeln wollen, braucht es hier Massnahmen. Zwei Hebel seien hier genannt: Die Plattform-Anbieter*innen müssen ihre Algorithmen anpassen und die Gesellschaft muss diskutieren, ob eine Moderation der Beiträge die Meinungsfreiheit einschränkt oder aber die Debattenkultur stärkt.

Ehe für Alle – durch das grosse Portal

Das Referendum wird eingereicht: Ewiggestrige Parolen haben die Referendumssammlung begleitet, von den nicht natürlichen Lebensgemeinschaften über das Kindswohl bis hin zu zur heterosexuellen Familie als Keimzelle des Staates. Und einmal hörte ich Klagen auf der Referendumsseite, diskriminiert zu werden, weil ihre Ansichten zu Reaktionen führen.

Ich könnte auf die Abstimmung verzichten – sie wird inhaltlich keinen weiteren Erkenntnisgewinn bringen und ich glaube: Die Gesellschaft ist in diesem Fall einiges weiter als die Politik – davon rühren auch die etwas unbedarften Klagen der Gegner*innen, sie würden zu hart angefasst. Neue Familienformen, Frauenpaare, die Kinder grossziehen, Männer ebenso, da hat sich in den letzten 30 oder 40 Jahre enorm viel gewandelt. Die Erkenntnis, dass Liebe, Beziehung und Zusammenleben nicht mehr in der gleichen normativen Einheitlichkeit wie seit Jahrhunderten stattfinden muss, ist eine der grossen Befreiungen, die ich miterleben durfte. Auf keinem anderen Gebiet hat sich so viel getan. Das hat mit Emanzipation zu tun, mit vielen Frauen und Männern, die mutig voraus gegangen sind. Viele andere Faktoren haben auch mitgeholfen, wie die demokratische Partizipation, die uns eine Stimme gab, oder auch die wirtschaftliche Entwicklung, die aus Zwangsgemeinschaften freiere Paare machte. Mit  mehr Möglichkeiten und Risiken, die das Leben bietet.

Eine Chance bietet aber die Abstimmung: Mit einem hohen Ja-Anteil können wir diese gesellschaftliche Öffnung an der Urne bestätigen. In einigen Kreisen wird mit dem Argument gespielt, diese Entwicklung sei von oben gesteuert –Stichwort Anti-Gender-Bewegung – und wird dann mit kruden Beispielen und Weltbilder garniert. Mit einer Abstimmung wird deutlich, dass in der Frage der Gleichberechtigung und Gleichstellung der Druck von unten und nicht von oben kommt.

Medienvielfalt statt Eintopf

Wie kann Medienvielfalt und Qualität erhalten und gefördert werden? Gian Waldvogel hat mit mir über das Medienpaket gesprochen – mit ein paar historischen Abstechern.

 

Man kann sich auch selber etwas ernster nehmen – und seine Arbeit machen

In der Pandemie wurde der Ruf laut, dass unser Parlament seine Rolle wahrnehmen müsse und aktiver mitgestalten müsse. Nicht wenige Parlamentarier*innen selber ware3n dieser Meinung.  Letztlich ist das Parlament diesem Ruf in den letzten Monaten sehr unterschiedlich nachgekommen. Teils mit unnötig lautem Aktivismus und Vorschlägen, die weder praktikabel noch dienlich waren, teils aber mit guter Arbeit um gerade auch die Situation leidender Branchen und vor allem der Menschen zu verbessern.

Durch die Pandemie und der grossen Arbeit mit dem Covid 19 Gesetz und anderen Anpassungen kamen andere Geschäfte in Verzug. Besonders gelitten hat die Behandlung von Vorstössen. Mit diesen kann das Parlament zeigen, dass es nicht nur Vorlagen des Bundesrates berät, sondern auch eigene Ideen einbringt und dem Bundesrat Aufträge erteilt. Besonders eindrücklich ist die Nichtbehandlung der Vorstösse aus dem Departement für Umwelt, Energie, Verkehr und Kommunikation (UVEK). Wenn meine Zählung stimmt, so haben wir seit der Herbstsession 2019 erst wieder im Herbst 2020 fünf Vorstösse behandelt und seither wiederum keine mehr. Das gibt nicht nur einen Rückstau, die Konsequenzen sind noch härter: Vorstösse, die innert zwei Jahren nicht behandelt werden, werden nichtig. Sie müssen neu eingereicht werden oder aber ihre Ideen stehen schlicht nicht mehr zur Diskussion. Wer also in den Bereichen des UVEK einen Vorstoss einreicht, muss heute mit grösster Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass er den Weg ins Parlament nie schaffen wird.

Traditionell nimmt sich der Nationalrat Anfang Mai Zeit, um in einer Sondersession einige Tage nachzuholen, wo er gegenüber dem Ständerat in Rückstand geraten ist – dieser diskutiert weniger und ist schneller. Das wäre eine Gelegenheit, möglichst viele Vorstösse zu behandeln und diese Inputs der Ratsmitglieder aufzunehmen. Ursprünglich war die Sondersession für vier Tage vorgesehen. So sieht es auch noch auf der Vorschau aus. Wer aber das Programm öffnet, sieht: Die Sondersession endet bereits einen Tag früher am 5. Mai, das Ratsbüro hat den letzten Tag gestrichen. Das Parlament vergibt so die Möglichkeit, gerade die eigenen Ideen zu behandeln. Schade, denn so vergibt es eine Chance, dass Parlamentarier*innen nicht nur Vorstösse einreichen, sondern diese auch behandeln können.

 

Die schaurige Lust auf die Diktatur

Ja, die Schweiz hat ein Demokratiedefizit. Der Rückblick auf 50 Jahre Frauenstimmrecht zeigt dies auf: Wir sind in Europa peinlich weit hinterhergehinkt und heute schliessen wir über zwei Millionen Ausländer*innen von den Wahlen und Abstimmungen aus. Aber eben – das ist momentan ja nicht das Thema, wenn von Rechtsaussen der Diktaturvorwurf kommt.

Er ist dermassen abstrus, dass ich mich zuerst nicht äussern wollte. Aber das peinliche Gerede einiger SVPler*innen, dass wir in einer Diktatur gelandet sind, braucht eine Klarstellung.

Zum Einen: Was sich momentan abspielt, ist gemäss Verfassung, Epidemiegesetz und Corona-Gesetzgebung abgestützt. Über das Epidemiegesetz hat die Stimmbevölkerung 2013 abgestimmt und zugestimmt. Weshalb sollte das Gesetz jetzt nicht angewandt werden? Richtig ist, dass wir eine gute Auswertung machen müssen und dann über allfällige Anpassungen diskutieren. Gewisse Einschränkungen der Grundrechte gingen weit und sollten überprüft werden können. Aber ich kann auch sagen: Zum Glück hatten wir diese Gesetzesgrundlage und wurden wir nicht ohne diese Leitplanken von der Pandemie getroffen.

Zum andern und etwas grundsätzlicher: Es schaudert mich, wenn  Politiker*innen, die selber an den Schalthebeln der Macht sitzen, von Diktatur schwafeln. Die dunklen Vergleiche mit den 30er Jahren sind daneben. Reihenweise gingen in dieser Zeit demokratische Staaten an faschistische und an das nationalsozialistische Regime. Mit Folgen, die den Kontinent, aber vor allem die Menschen erschütterten und grauenvolles Leid brachten. Wer eine Maskenpflicht oder ein vorübergehendes Veranstaltungsverbot mit dem Handeln eines faschistischen Staates vergleicht, müsste zu einem Auffrischungskurs Geschichte des 20. Jahrhunderts verknurrt werden.  Ebenso übel wird mir, wenn DDR-Vergleiche gemacht werden. Als junger Mann hatte ich mehrere Brieffreund*innen in der DDR und besuchte das Land mehrmals. So schön die Besuche auf der menschlichen Ebene waren, so frustriert kam ich als junger Linker zurück. Dass es in einer ganzen Stadt keine Turnschuhe einer bestimmten Nummer gab und kein Gemüse in den Läden, war ja noch verdaubar. Aber der ganze Repressionsapparat mit Überwachung, Grenzsicherungen, willkürlichen Verhaftungen, Haftstrafen und eine Mediensteuerung, die zu einer hanebüchenen Informationslage führte,  all das nahm einem jede Illusion. Das Buch „Der Turm“ von Uwe Tellkamp oder die Serie „Weissensee“ zeigen eindrücklich, was es hiess, im System dieser Diktatur zu leben.

All das kann Magdalena Martullo, Thomas Aeschi oder Marco Chiesa nicht entgangen sein. Verantwortungslos zündeln sie und gefährden damit unsere Institutionen, auf diese in ihren Sonntagsreden sonst so stolz sind.