Trotz grossem Wahlerfolg bleiben für die Grünen die Tür in den Bundesrat verschlossen. Im grossen Interview nach der Grünen Welle analysiert Nationalrat Michael Töngi die Folgen und wagt einen Blick in die politische Zukunft des Landes.
Michael Tönig, es war eine regelrechte Grüne Welle, welche die Schweiz erfasste am 20. Oktober. Historisch, unerwartet, einmalig. Aber dieser Erfolg bedeutet auch Verantwortung. Was heisst das für die Grüne Partei.
Logisch sind nun die Erwartungen gross. Es ist aber nicht so, dass wir uns in einem luftleeren Raum stehen. Wir machen seit 30 Jahren Klimapolitik und wissen um die griffigen Instrumente. Nun geht es darum, mit dieser neuen Parlamentsmehrheit den Klimaschutz zu stärken. In der Verkehrskommission bringen SP, Grüne und Grünliberale neu gemeinsam mit zwei zusätzlichen Stimmen Grüne Anliegen durch. In den vergangenen Jahren schafften wir es nicht einmal mit Unterstützung von CVP und BDP zu einer Mehrheit gegenüber den Rechtsbürgerlichen. Das zeigt die tiefgreifenden Veränderungen, welche diese Wahl hervorbrachte.
Welche zentralen politischen Forderungen der Grünen werden im neuen Parlament mehrheitsfähig, die zuvor kaum Chancen hatten? Und was bleibt gleich?
In den ökologischen Themen müssen wir mindestens drei Schritte nach vorne machen. Mit den vielen Versprechen, die abgegeben wurden vor den Wahlen für den Klimaschutz, müsste jetzt auch etwas möglich sein. Ich rechne damit, dass vor allem technische Massnahmen mehrheitsfähig sind, während Forderungen, die auf eine Verhaltensänderung abzielen, es schwieriger haben. Beispielsweise ist es für die bürgerlichen Parteien immer noch ein rotes Tuch, den Verkehr zu lenken. Kaum Hoffnung auf Fortschritte bestehen im sozialen Bereich. Zwar hat Links-Grün leicht zugelegt, aber die bürgerlichen bleiben in der Mehrheit.
Die Kandidatur von Regula Rytz für den Bundesrat war chancenlos. Haben die Grünen die falsche Strategie gewählt?
Nein, das hatte nichts mit der Strategie zu tun. Auch bürgerliche Politiker*innen bestätigten unseren Anspruch. Für CVP-Präsident Gerhard Pfister war Regula Rytz die richtige Kandidatin. Doch das spielte keine Rolle. Die Bundesratsparteien von CVP bis SVP stellten den Machterhalt über die Konkordanz. Um den Status Quo zu begründen, war ihnen kein Argument zu schade.
Wie beurteilst Du die Nichtwahl von Regula Rytz und was heisst das für die Zukunft der Konkordanz?
Wir haben jetzt ein Parlament, das in beiden Kammern keine SVP-FDP-Mehrheit mehr hat. Das müsste sich auch im Bundesrat abbilden. Eine solche Korrektur nach dem Kräfteverhältnis im Parlament hat die Bundesversammlung schon mehrfach vorgenommen. Aber die Bürgerlichen halten die Konkordanz offensichtlich nur von Fall zu Fall hoch. Das macht unser politisches System anfällig.
Wie meinst Du das?
Wir haben keine Koalitions- und Oppositionssystem – sondern in der Schweiz sind traditionell alle relevanten politischen Lager im Bundesrat vertreten. Unsere Demokratie funktioniert dann gut, wenn sie neue Realitäten abbildet und sich die Institutionen anpassen. Wenn die beteiligten Akteure die Zauberformel verkrusten lassen, hat das nichts mit Kontinuität zu tun. Stattdessen führt das zu einer Starre mit grösseren Brüchen. Es droht der Schweiz langfristig eine institutionelle Krise, wenn die Schweizer*innen den Parteien nicht mehr zutrauen, alle relevanten Kräfte an der politischen Macht zu beteiligen.
Ist das Ergebnis der Bundesratswahlen eine Chance für die Grünen, wie es beispielsweise das Onlinemagazin Republik schreibt?
Praktisch hat es erst einmal grosse Nachteile für die Grünen, nicht im Bundesrat vertreten zu sein. Unserer Fraktion fehlt der direkte Zugang zum Bundesrat – Informationen aus der Regierung sind sehr wichtig und wertvoll. Selbstverständlich werden wir in vier Jahren anders auftreten, unser Anspruch ist berechtigt und wir werden ihn vehement einfordern. Mir wäre es lieber, wenn die Grünen jetzt schon im Bundesrat mitreden könnten.
Was ist mit dem grüneren Parlament konkret gewonnen?
Jetzt schlagen wir kurzfristig einige Pflöcke ein. Ein Beispiel ist der Autobahnausbau – diese angedachten Wahnsinns-Projekte müssen verhindert werden. Dazu gehören geplante grosse, sechsspurige Autobahnen durch das Mittelland. Dort will ich einen Kurswechsel erreichen. Auch müssen wir die Gelder vom Strassenbau weg und hin zu ökologischerem öffentlichem Verkehr erreichen. Das war mein letzter Vorstoss vor den Wahlen – der nun hoffentlich eine Erfolgschance hat. Dafür müssen wir ganz konkret kämpfen und können so erste Erfolge für den Klimaschutz erzielen.
Gerade im Verkehr hast Du neu grössere Befugnisse. Gratulation zu deiner Wahl als Präsident der Verkehrskommission. Wie wirst Du deinen neuen Einfluss nutzen?
Vielen Dank. Aber vorerst: Meine wichtigste Aufgabe ist die Organisation der Sitzungen, damit gute Entscheide getroffen werden können. Ausserdem bin ich verantwortlich für die Traktandenliste. Die meisten Geschäfte sind dabei vorgegeben. Ich schätze es sehr, über die Parteigrenzen hinweg einen guten Dialog zu ermöglichen. Wichtig sind die Präsidien vor allem als Zeichen gegen aussen: Die Grünen präsidieren neu zwei gewichtige Kommissionen im Nationalrat und eine im Ständerat und das zeigt ihren grösseren Wirkungskreis.
Parteipräsidentin Regula Rytz lädt alle Parteien zu einem Klimagipfel. Was versprichst Du dir davon?
Ein Commitment den nun eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen und die Wahlversprechen zu halten. Das ist notwendig, wenn wir die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst nehmen. Der Tenor aus der aktuellen Forschung zeigt klar auf, dass das vorliegende CO2-Gesetz nicht hinreichend ist, um die globalen Klimaziele zu erreichen.
In den vergangenen Wochen kritisierten verschiedene Journalistinnen, dass die Grünen von der Klimathematik profitierten, obwohl SP und GLP viel konkretere politische Massnahmenpläne beim Klimaschutz hätten. Lässt Du diesen Vorwurf gelten?
Wenn man Wahlen gewinnt, steht man stärker im Fokus und die Medien suchen nach Schwächen. Hier grübeln sie aber am falschen Ort. Fakt ist, dass Adèle Thorens und Bastien Girod in der Umweltkommission fachlich hervorragende Arbeit geleistet haben und ich in der Verkehrskommission wie im Nationalrat wichtige Anträge für die nächsten Etappen gestellt habe. Die gute Nachricht ist heute: Wir haben das Wissen und die Fähigkeiten, in eine fossilfreie Zukunft zu gehen, die schlechte Nachricht ist, dass es weiterherum am politischen Willen fehlt.
Aber dennoch: Die SP hat Klima-Papiere und einen klaren Plan, wohin es gehen soll. Das fehlt den Grünen.
Einspruch: Im Wahlprogramm, das die Grünen vor einem knappen Jahr verabschiedeten, sind alle wichtigen Massnahmen enthalten. Von Erhöhung der Flottenziele beim CO2-Ausstoss, über ein Road Pricing zu all den Massnahmen im Gebäudebereich. Wir müssen fossilfrei werden – daran messen wir die politischen Geschäfte. Selbstverständlich wird unsere Fachgruppe Klima weiter neue Ideen beitragen. Sehr wichtig ist auch die starke Vernetzung der Grünen mit den Umweltverbänden, mit denen wir sehr eng zusammen arbeiten.
Als grosse Partei müssen die Grünen auch Antworten haben auf die zwei Fragen, welche bei den Schweizer*innen weiter ganz oben dem Sorgenbarometer stehen: Altersvorsorge und Gesundheitskosten. Welche Lösungen hat die Partei und wie kann die politische Blockade der vergangenen Jahre lösen?
Die AHV haben wir im Griff. Eventuell muss der Bund sich in Zukunft mit höheren Beiträgen an der Finanzierung beteiligen. Vielleicht sind die Lohnprozente noch zu erhöhen. Die Babyboomer sind sicher eine Herausforderung, aber diese zwischenzeitliche Zusatzbelastung ist absehbar. Schwieriger ist die Pensionskasse. Das Konzept funktioniert mit der derzeitigen Tiefzins-Situation nicht. Wir müssen uns überlegen, die zweite Säule umzubauen und die AHV stärken. Grundlegende Reformen wie eine Erhöhung des Rentenalters sind vor dem Volk nur mehrheitsfähig, wenn gleichzeitig ein sozialer Ausgleich für Menschen mit geringem Einkommen stattfindet. Schon heute ist es ja so, dass Personen mit hohen Einkommen sich früher pensionieren lassen, während Geringverdienende sich das nicht leisten können.
Und bei der Gesundheitskosen? Da habe ich noch kaum etwas von den Grünen gehört.
Schlecht zugehört. Aber im Ernst, das Thema ist schwierig. Ich denke wir müssen die Prämienverbilligung ausbauen und von der Kopfprämie wegkommen. Das Ziel ist aus meiner Sicht eine einkommensabhängige Prämie. Oder die öffentliche Hand zahlt einen höheren Beitrag an die Prämienverbilligung. Es gibt ein gewisses Sparpotenzial im Gesundheitswesen. Beispielsweise bei den Medikamenten-Preisen, bei der Förderung von ambulant vor stationär oder der Gesundheits-Prävention. Doch die Sparmöglichkeiten sind beschränkt. Niemand will die medizinischen Leistungen an sich einschränken. Der Reichtum der Schweiz erlaubt uns glücklicherweise eine umfassende medizinische Versorgung – die Kostenverteilung ist die grosse Herausforderung.
Die erste Session ist zu Ende. Statt dem prognostizierten progressiven Fortschritt sprachen die beiden Parlamentskammern mehr Geld für Kampfjets, senkten die Attraktivität des Zivildienstes und schränkten den Umweltschutz ein. Hat die Grüne Welle letztlich die konservativen Kräfte letztlich gar gestärkt und geeint?
Ich glaube, es ist zu früh für einen Rückblick auf eine Legislatur, die erst gerade begonnen hat. Mehrere Entscheide, die das neue Parlament fällte, wären im alten noch deutlicher überwiesen worden. Der Bürgerblock kann sich aber weiterhin gegen die linken Parteien durchsetzen, auch nach dem Grünen Wahlerfolg. Zudem hat der Nationalrat auch positive Entscheide gefällt. Dazu gehört ein Pestizid-Vorstoss oder auch schärfere Transparenz-Regeln für Lobbyismus im Bundeshaus, die vor dem 20. Oktober keine Chance gehabt hätte.
Was sind deine persönlichen Ziele in den nächsten vier Jahren?
Die Verkehrspolitik ist mir ans Herz gewachsen. Wenn wir da die ökologische Wende nicht schaffen und der private Autoverkehr weiter wie bis anhin zunimmt, dann werden wir das Klimaziel nicht erreichen. Ich werde alles dafür tun, dass wir die Abkehr von klimaschädlichem Verkehr erreichen. Die Städte haben bereits damit begonnen, mehr auf öV und Langsamverkehr zu setzen. Der Bund muss das stärker unterstützen – bisher nahm er eine sehr ambivalente Rolle ein.
Beschränken sich deine Ziele auf Verkehrspolitik?
Nein, ich stehe auch für eine offene und solidarische Schweiz ein. Die Abschottungspolitik der SVP ist keine Perspektive für unser Land.
Die GLP versagte Regula Rytz die Unterstützung und zeigte mit dem Ja zur Kampfjet-Beschaffung ihre Armeefreundlichkeit. Wie interpretierst Du die Rolle der Grünliberalen?
Ein kürzlicher Abstimmungsbarometer zeigte, dass die Basis der GLP die Wohninitiative unterstützt. Die Studienautoren folgern, dass die GLP-Wähler*innen linker sind als die Parlamentarier*innen. Die Partei muss sich in vielen Themenfeldern noch finden. Letztlich ist es an der Stimmbevölkerung zu entscheiden, welche Kräfte sie wählt. Ich war immer der Meinung, die Grünen sollten sich nicht an den Grünliberalen abarbeiten, sondern mit ihnen einen Umgang wie mit anderen Parteien pflegen – das haben wir in Luzern ja auch so gehandhabt.
Das Interview führte Gian Waldvogel, Sekretär der Grünen Kanton Luzern.