Schauspieler*innen, die sich mit Satire über Corona-Massnahmen lustig machen, Adolf Muschg, der eine Cancel Culture in der Schweiz ausmacht und diese mit Auschwitz vergleicht: Beides hat starke Reaktionen ausgelöst. Widerrede, Empörung, aber insbesondere hierzulande gab es auch viel Zustimmung und eher: Empörung über die Empörung. Die Diskussion über eine sogenannte Cancel Culture schwappt sein einigen Monaten vermehrt durch die Schweiz: Aber was steckt dahinter? Und: Wer cancelt wen?
Selbst der „neue“ Nebelspalter hält fest: Das Phänomen sei in der Schweiz noch nicht so stark vertreten – nur solle man sich nicht zu sicher sein, schiebt er vorsorglich nach. Und welche Beispiele kommen? Die Klimadiskussion sei verengt wie auch jene über Corona. Das war von einem Nebelspalter zu erwarten und da wurde nicht viel Hirnschmalz für eine Analyse verwendet. Ein Philosophieprofessor nennt im Artikel als Beispiel den Gesundheitswissenschaftler John Ioannidis. Er werde verleumdet. Ein schlechtes Beispiel, denn seine Thesen wurden in den Medien breit diskutiert. Nur: Sehr viele andere Wissenschaftler*innen und die meisten Journalist*innen teilen seine Schlussfolgerungen nicht. Gerade Journalismus hat die Aufgabe, Meinungen darzustellen, sie aber auch einzuordnen oder vor allem den Leser*innen Hilfen anzubieten, dies selber machen zu können. Nur weil eine Meinung nicht mehrheitlich mitgetragen wird, kann sich der Autor oder die Autorin noch kein Cancel-Schild umhängen.
Weiter wird im Nebelspalter ausgeführt, dass schon Auftritte sabotiert wurden, vor einem Jahr zum Beispiel von einem libertären Ökonomen. Ok, etwas mehr Gelassenheit und die Auseinandersetzung suchen, könnte richtig sein. Nur: Ist das jetzt das einzige Beispiel? Offensichtlich ist es schwierig, zum Beweis einer neuen Tendenz auch etwas Substanz respektive Fälle in die Diskussion zu bringen. Ja und ist es denn etwas Neues, dass jemandem ein Auftritt verweigert wird? Wer sich heute darüber entsetzt, war mit einiger Wahrscheinlichkeit früher daran beteiligt, dass andere schon gar nie eine Auftrittsmöglichkeit erhalten hat. Siehe zum Beispiel Andi Gross als Präsident der GSOA, der in der Universität Zürich unerwünscht war. Und siehe auch all die Menschen, denen während des Kalten Krieges der Mund verboten wurde, vor- und verurteilt wurden.
Aber wurden die 50 Schauspieler*innen in Deutschland gecancelt, da sie ihre Statements ins Internet stellten? Ein unüberlegtes Video, das kann es geben. Schwamm drüber. Aber diese Aktion war geplant, koordiniert und sie hatte doch gerade den Sinn, eine Reaktion auszulösen. In der Luzerner Zeitung wurde dafür plädiert, „die Vieldeutigkeit zu erkunden“. Ich habe mir einige angeschaut. In einem kontextlosen Raum sind einige ja noch lustig. Nur: Sie hatten eben einen sehr konkreten Kontext – sie alle verbindet die Kritik an den Coronamassnahmen. Jetzt fielen die Reaktionen negativ – teilweise auch sehr hart – aus. Diese Reaktionen dann aber gleich als faschistoid zu bezeichnen, wie geschehen, ist eine groteske Umkehr von Ursache und Wirkung. Ist es nicht viel einfacher und muss man diesen Schauspieler*innen schlicht sagen: Selber tschuld?
Und wie ist es mit Adolf Muschg? Da kann ich nur sagen: Wer mit Auschwitz-Vergleichen um sich wirft und dann treuherzig findet, das sei aus dem Zusammenhang gerissen und man möge bitte die ganze Sendung hören, ist ebenfalls ganz selber verantwortlich für die Verengung der Diskussion.
Gecancelt fühlte sich auch eine Teilnehmerin der EDU bei einem Podium an der Luzerner Hochschule für soziale Arbeit über LGBTIQ+ Gleichstellungsfragen. Ja, sie wurde von den Studierenden hart angefasst und musste sich viele Fragen erlauben. Ihre Argumentation, die göttliche Ordnung käme da durcheinander, löste starkes Kopfschütteln aus und sie beklagte sich über die Reaktionen. Ist das nun ein Canceln? Oder gab es eine Verschiebung im Wertesystem? Musste jemand, der oder die in den 80er Jahren die Ehe für alle forderte, nicht mit gleich starken Reaktionen rechnen? Oder: Wahrscheinlich mit stärkeren? Damals gab es Berufsverbote für Mitglieder der POCH und Schwulenkarteien. Beklagen sich jetzt nicht auffällig viele Leute über ein Canceln, die einfach jahre- und jahrzehntelang nicht mit Gegenwind rechnen mussten oder dass sie sich für einmal in einer Minderheitsposition wiederfinden?
Gerne werden Einzelereignisse überhöht, wie beim Aufschrei, als eine Bank dem Referendumskomitee gegen die Ehe für Alle ein Bankkonto verweigerte. Ob richtig oder falsch: Das ist keine neue Cancel-Culture, sondern gängige Geschäftspraktik von Banken, mit welchen progressive Kreise schon und vor allem vor Jahrzehnten konfrontiert waren.
Ähnlich verhält es sich mit einigen bürgerlichen Politikern und einigen Medien in Bezug auf linke Stadtregierungen und Parlamente. Ach, die ziehen eigene Projekte durch? Suchen nicht den Konsens mit allen politischen Kreisen? Na sowas – hat jemand eine ähnliche Kritik gegenüber bürgerlichen Kantonsregierungen gehört, die vielerorts seit Menschengedenken am Werk sind? Auch hier gilt: Die Kritik kommt oft als Phantomschmerz von bürgerlicher Seite, die sich unverdienter- und unerklärlicherweise in manchen Fragen in einer Minderheitsposition wiederfindet. Wer vom Thron gestossen wurde, mag sich verletzt fühlen, doch er oder sie ist jetzt auf Augenhöhe mit den anderen.
Zwei Schlussfolgerungen
Natürlich gibt es Beispiele, wo jemand nicht zu Wort kommt, man ihm oder ihr nicht genau zuhört und voreilige Urteile gezogen werden. Diskutieren wir doch über diese konkreten Beispiele: Sind Fehler passiert in der Debattenkultur, im Ausschluss von Menschen? Der Erkenntnisgewinn ist dann einiges höher als die allgemeine Cancel-Diskussion, die mir in letzter Zeit als Ausweichrhetorik vorkommt für jene, denen im Konkreten die Argumente ausgegangen sind.
Was stimmt: Ja, die Diskussionen sind lauter geworden. Auf allen Seiten – das ist aber kein generelles Zeichen einer Verrohung der Debatte, sondern ein Problem der heutigen Debattenräume. Wir wissen, dass auf den sozialen Medien emotionale, laute und zugespitzte Beiträge besser bewertet werden, teils durch die Algorithmen der Anbieter gefördert und teils im Durchscrollen rascher bewertet. Wenn wir differenziertere Debatten wollen und die Lautstärke etwas runterpegeln wollen, braucht es hier Massnahmen. Zwei Hebel seien hier genannt: Die Plattform-Anbieter*innen müssen ihre Algorithmen anpassen und die Gesellschaft muss diskutieren, ob eine Moderation der Beiträge die Meinungsfreiheit einschränkt oder aber die Debattenkultur stärkt.