Mein Beitrag zur 1. Augustfeier in Horw zum Thema
Liebe Anwesende
Was hat es mit der Normalität auf sich?
Als ich in den 80er Jahren in die Kantonsschule ging, da schien mir ganz vieles gefestigt zu sein. Auch wenn man als Jugendlicher sich die Welt ganz anders vorstellen kann als sie ist, ist sie eben doch so, wie sie ist: Es fehlte mir in vielen Bereichen an der der realen Vorstellungskraft, wie die Welt denn aussehen würde. Es gab den Westen und den Osten, da war eine Mauer dazwischen und das war nicht gottgegeben, aber doch ganz ähnlich. Ich hatte Brieffreundinnen hinter dieser Mauer und besuchte 1988 / 89 Menschen in der DDR. Ich kannte die Nöte und den Ärger über das Regime, ich habe den friedlichen Aufstand nah mitbekommen, aber ehrlich gesagt: Ich war baff, als die Mauer fiel und überrumpelt. Das war mein erstes politisches Erlebnis, dass sich die Welt in ihren Grundfesten verändern kann und unser Denken da manchmal nicht nachkommt, auch wenn in Hundert Talkshows im Voraus darüber diskutiert wurde.
Und interessanterweise hat sich diese Erfahrung auch immer wieder wiederholt: Ich konnte mir den Krieg auf dem Boden von Jugoslawien schlicht nicht vorstellen. Viele andere auch, gescheite Kommentatoren sprachen von einer Unmöglichkeit, weil doch die Wirtschaft so verflochten war.
Oder wie war das mit dem Fast-Zusammenbruch der UBS 2008? Als Linker war ich diesen Banken immer etwas skeptisch gegenüber, aber irgendwie konnte ich mir nie vorstellen, dass die tatsächlich mit einer falschen Strategie derart in Schwierigkeiten geraten könnten.
Das gleiche gilt für die Corona Zeit: Wir wussten, dass eine Pandemie die grösste Bedrohung für die Schweiz ist. Das stand in jedem Lehrbüchlein und der Bund hat 2014 auch eine Pandemie-Übung durchgeführt. Und trotzdem: Wer war darauf gefasst? Wer musste nicht tief einatmen und sich neu orientieren?
Ja, und was am 24. Februar geschah, das hat uns auch überrumpelt. Da war zwar irgendwo im Donbass seit Jahren ein Krieg, aber viele von uns konnten sich nicht vorstellen, dass so nah ein so gewalttätiger Krieg stattfinden würde, obwohl dieses Beispiel vielleicht gerade deshalb so überraschend war, weil es einem Modell aus dem 19. oder 20 Jahrhundert folgte. Ein plumper, völkerrechtswidriger Angriffskrieg zur Vergrösserung des Territoriums des Angreifers.
Die Normalität hat also immer wieder Brüche erlebt. Es gibt keine kontinuierliche Normalität im politischen, aber auch im gesellschaftlichen. Immer wieder mussten wir in Umbruchzeiten, in glücklichen wie schwierigen, wieder eine Normalität finden. Das heisst, die Gesellschaft musste sich in wichtigen Fragen einigen, wie sie miteinander umgeht, wie Ereignisse gedeutet werden, selbstverständlich in allen Farben und Schattierungen. Und in diesen Zeiten besteht ein grösseres Bedürfnis nach Diskussion und Austausch. Ich habe das vor allem bei Corona so erlebt. Wie viel haben wir darüber diskutiert, über den R-Wert, exponentielle Kurven, Massnahmen, oder über unser Verhältnis und Verständnis zum Staat. Unvergessen war mir zum Beispiel, als mir ein Unternehmer mit grossem Entsetzen erzählte, wie erstaunt er war, dass der Staat einen Lockdown anordnen und durchziehen kann. Für ihn war der Staat und das Parlament bisher ein Ort, wo viel geredet wird, aber die Welt wird von der Wirtschaft gestaltet.
Mir ist es deshalb ein grosses Anliegen, dass wir diese Diskussionen miteinander führen können. Dazu brauchen wir viele Orte zum Diskutieren, viele Informationen und wir brauchen vor allem einen Rahmen für diese Diskussionen, der allen eine Teilnahme ermöglicht. Und dies ist eines der ganz grossen Themen unserer Zeit. Wo treffen wir uns noch für diese Diskussion und wie gehen wir miteinander um, damit diese Diskussion nicht einzelnen oder vielen verleidet. Wir haben in der Schweiz viele Orte dafür, wir haben sie in Jahrzehnten und Jahrhunderten geschaffen und dafür gekämpft. Seien das lokale Organisationen, lokale Demokratie, seien das nationale Möglichkeiten wie Initiativen und Referenden. Auch diese Möglichkeiten sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben engagierte Bürger geschaffen.
Ich mache mir aber Sorgen um diese Diskussionsmöglichkeiten. Wir müssen uns um sie kümmern und sie pflegen. Wir haben soziale Medien, die uns die Chance geben, dass viel mehr Menschen miteinander diskutieren können, viel mehr Menschen können sich so äussern, gleichzeitig steigt aber die Gefahr, dass nur noch jene gehört werden, die besonders krasse Meinungen äussern, denn sie werden auf Facebook oder Youtube bevorzugt gezeigt.
Wir haben traditionelle Medien, die diesem Trend folgen müssen oder wollen. Nach einem Unfall am Axen werden sofort Schuldige gesucht, sei es eine Leitplanke, die gefehlt hat, sei es ein Tunnel, der noch nicht gebaut ist. Haben die Umweltverbände mal wieder etwas verhindert, haben die Gericht zu langsam gearbeitet? Dass zuerst aber ein tragischer Unfall geschehen ist, kommt gar nicht mehr vor. Oder ein Konzert wird abgebrochen, weil Personen mit Rastafrisur und dazu passender Kleidung Reggeamusik spielen. Die Reaktion: Häme, Lächerlichkeit. Wahrscheinlich war der Abbruch des Konzerts eine Überreaktion und auch falsch, aber tagelang machte sich niemand die Mühe, den Hintergrund von dieser Musik oder die ursprüngliche Bedeutung der Rastafrisur zu erklären. Man hatte einen guten Verriss einer Aktion und eine gute Schlagzeile, was ja reicht.
Und wir selber? Wir fördern mit unserem Verhalten diese Art von Kurzfutter und Sensationsmeldungen, denn auch ich ertappe mich, wie ich mich ablenken lasse, wenn ich mich durch all die Meldungen tippe und wo ich dann auch hängen bleibe.
In dem Sinne sind mir für die Diskussionen – und auch aus der Erfahrung aus der Corona Zeit – folgende Punkte besonders wichtig, vielleicht sind es auch Gedanken, die besonders für mich selber als Politiker gelten.
Differenzierung statt Zuspitzung
Natürlich muss man in einem Abstimmungskampf eine Sache auf den Punkt bringen und am Schluss Ja oder Nein sagen. Man kann die Debatte aber trotzdem differenziert führen und die Zwischenbereiche aufzeigen, auch Dilemmas, die bestehen, denn dort werden die Diskussionen interessant. Kaum etwas ist zu 100 Prozent richtig oder falsch, sonst müssten wir es nicht diskutieren. Wir können mit unseren Fragen und Interesse mithelfen, dass die Diskussionen breiter werden.
Klare Worte statt Schlötterli
Corona hat uns alle gefordert, auch in Diskussionen. Schnell sind auch mal die Fetzen geflogen. Ich habe gemerkt: Es war sehr wichtig, eine klare Meinung zu äussern, auch etwas klarzustellen, wo man eine andere Haltung hat oder wo Institutionen ohne konkrete Gründe angegriffen werden. Gleichzeitig ist wichtig, dass wir nicht in einen Eskalationsmodus kommen, was gerade mit gegenseitigen Schimpfworten wie Schlafschafe oder Covidioten passiert ist. Respekt ist grad dann wichtig, wenn man im Streit miteinander ist.
Zuhören schadet nicht
Gut, können heute nicht nur die traditionelle Medien senden und die Bevölkerung nur empfangen. Das hat das Meinungsspektrum erweitert. Aber das heisst nicht, dass das Zuhören deshalb weniger wert wäre, übrigens auch für die Medien. Manchmal ist es auch gut, wenn man vor dem Senden sich zuerst eine Meinung bildet und das geht nur, wenn man verschiedenen Personen zuhört, und sich auch vor dem Senden auch etwas überlegt.
Liebe Zuhörerinnen, Liebe Zuhörer, ich habe jetzt gerade gesendet, herzlichen Dank für diese Einladung, dass ich Ihnen einige Worte mitteilen durfte. Der 1. August ist ein guter Ort, um solche Fragen zu diskutieren und unser Zusammenleben auch immer wieder neu zu ordnen. Ich freue mich, dass wir beim Apéro diese Diskussion weiterführen können.