Sozialversicherungsrecht: Nein zu einem schludrigen Gesetz

Wer Podien besucht, Leserbriefe liest oder auch unserem Bundesrat Alain Berset zuhört, der kommt im Abstimmungskampf um das Sozialversicherungsgesetz nicht aus dem Staunen heraus: Nein, es gibt keine Fotos in Privaträumen, Richtmikrophone und Drohnen kommen überhaupt nicht in den Einsatz und ja, die Gesetzesberatung habe ihren üblichen Lauf genommen.

Nichts davon ist wahr. Eher das Gegenteil. Im Gesetz steht ausdrücklich, dass eine Überwachung möglich ist, wenn die versicherte Person sich an einem Ort befindet, der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist. Also, wer in einer Parterrewohnung wohnt, wer sich auf seinem Balkon aufhält oder wer das Pech einer dieser neuen Wohnungen mit Riesenfenstern hat, kann von der nächsten Strasse aus fotografiert und überwacht werden. Das Parlament hat diese Artikel diskutiert und in der vorliegenden Form verabschiedet – eine Rückweisung mit dem Auftrag einer strikten Einhaltung der Privatsphäre erhielt nicht eine einzige bürgerliche Stimme. Sie wussten genau, was sie taten.

Ebenso hat das Parlament über den Einsatz von Drohnen diskutiert. Sie sollen mindestens für die Ortung von Personen eingesetzt werden können, ob sie zur weiteren Überwachung auch zulässig sind, war nicht klar: Die Kommissionssprecherin konnte dies nicht abschliessend klären. Kein Wunder, die Gesetzesrevision wurde in einem unglaublichen Eiltempo durchgeboxt. An meinem ersten Sessionstag vom 12. März war im Nationalrat die erste Lesung, am 15. März vormittags dann die zweite Lesung im Ständerat, mittags die Kommissionssitzung Nationalrat und gleich anschliessend die zweite Lesung im Nationalrat. Etwas sehr flott, wie jetzt die unterschiedliche Interpretationen es zeigen. Keiner weiss so genau, was beschlossen wurde.

Sagen wir Nein zu diesem schludrigen Gesetz – und geben wir dem Parlament den Auftrag, sorgfältiger und unter besserer Berücksichtigung der Grundrechte Gesetze auszuarbeiten.

Überwachung heizt Misstrauensdebatte an

Die NZZ am Sonntag kommentiert heute, dass die Überwachung von Sozialhilfebezüger und die Verfolgung von Fehlbaren letztlich das Vertrauen in das Sozialwesen stärke. Die Argumentation ist  altbekannt, aus meiner Sicht aber falsch.

Selbstverständlich gehört zu jedem System auch eine Kontrolle und eine Sanktionierung von Missbräuchen. Die neuen Überwachungsmethoden im Sozialversicherungsgesetz gehen aber viel zu weit. Kein Wunder, äussert sich die NZZ auch nicht zu den konkreten Massnahmen. Wer ohne Augenmass und ohne Respekt auf das Recht auf Privatsphäre Überwachungen zulässt, heizt die Misstrauensdebatte an, statt dass er sie beruhigt.

Die Argumentation ist aber auch merkwürdig einseitig. In anderen Bereichen wird die Verhältnismässigkeit viel stärker gewichtet. Man könnte ja zum Beispiel, um das Vertrauen in unser Steuersystem noch etwas stärken, auch noch weitere Massnahmen ergreifen:

  • Wer Sanierungskosten bei den Steuern abzieht, muss damit rechnen, dass ein Privatdetektiv von der Strasse aus ins traute Heim hineinfotografiert um festzustellen, ob die Sanierung dem entspricht, was auf der Steuererklärung eingegeben wurde. War es wirklich Unterhalt oder eine Neuinvestition, die nicht von den Steuern abgezogen werden darf?
  • Wer auswärts isst, wird kontrolliert, ob er dies tatsächlich so oft macht, wie er es angibt.
  • Beim Besuch von Fremdsprachenkursen wird bei der Firma nachgefragt, ob diese Fremdsprache tatsächlich gebraucht wird.
  • Und selbstverständlich heben wir das Bankgeheimnnis auf, es könnte ja ein Konto verschwiegen worden sein.

Gleiches gilt im übrigen auch für Bauabnahmen, die meines Wissens immer vorangekündigt werden. Wer bei einem Umbau etwas Illegales eingebaut hat, hat dann noch Zeit, dies zu kaschieren.

Völlig einverstanden, wer nun sagt, dass das übertrieben wäre und eine Bevormundung der Menschen. Aber genau so, wie bei den Steuern klar sein muss, dass Massnahmen verhältnismässig sein müssen, so müssen sie dies auch in anderen Bereichen sein. Die NZZ als Hüterin des liberalen Rechtsstaates dürfte da ruhig etwas sensibler sein.