Land der Ausweisungen Dezember 2006

Man schrieb das Jahr 2025. Wie jeden ersten Freitag im Monat traf sich in der Bar jeder Vernunft ein kleiner Kreis von Leuten. Erst seit kurzem wurde die Gruppe nicht mehr kleiner – der letzte Richter aus dem Schweizerischen Volks- und Patriotentribunal hatte auf eigenen Antrag hin das Land verlassen müssen. Die Ausweisungsmaschinerie kam zum Stillstand. Rundherum gab es nur noch Bären und Wölfe, langsam verwilderten die Städte.

Begonnen hatte alles im Jahre 2006, als Bundesrat Blocher durchsetzte, dass straffälligen Eingebürgerten der Pass wieder abgenommen und sie und ihre Familie ausgewiesen werden sollten. Man setzte die Forderung mit helvetischer Gründlichkeit durch. Zuerst wurde Kurt Furgler ausgebürgert, man wies ihm nach, dass er im St. Galler Stift verbotenerweise Messwein trank und zudem einen lichtensteinischen Urahnen im Stammbaum hatte. Kurz darauf wurden gleich alle Genfer in globo exkommuniziert respektive ausgebürgert, weil ihr Abstimmungsverhalten generell als straffällig erachtet wurde und sie eh erst seit 160 Jahren Schweizer waren – viel zu kurz, um richtig assimilisiert zu sein. Sie setzten sich ans andere Seeufer ab und gründeten nouvelleville Geneve. Als die Basler protestierten, geschah ihnen genau das gleiche, inklusive ihren Leckerlis zogen sie nach Lörrach. Auch Jeremias Gotthelf wurde ausgebürgert, die Schwarze Spinne wurde als verbotene Horrorerzählung klassiert. Dann musste Pestalozzi dran glauben, weil seinen Schriften Laschheit und Verbreitung von Gutmenschtum nachgewiesen wurde. Kleiner Trost: Ebenfalls die Schweiz verlassen musste Huldrich Zwingli, weil er althergerbrachtes nicht stehen lassen mochte. Winkelried wurde posthum ausgewiesen, weil er durch seine leichtsinnige Tat Kinder und Frau fürsorgeabhängig gemacht hatte, übrigens auch Niklaus von der Flüe wurde als Sozialschmarotzer weggeschickt und Tell wurde des Apfelklaus bezichtigt – ausgerechnet er musste in Österreich Unterschlupf finden. So leerte sich die Schweiz.

Kirchtürme und Minarette. November 2006

Man schreibt das Jahr 1653. Sultan Christophmehmed Block-Er nahm sich noch eine Dattel und wartete ungeduldig auf die neuesten Plakatvorschläge von seinem Propaganda-Wesir Döner Mörgeli. Man stand vor der Eroberung von Wien und brauchte unbedingt noch einige gute PR-Aktionen, um die osmanischen Krieger bei Laune zu halten. Nicht einfach, so weit weg von der Heimat im kalten, nebligen, sumpfigen und rückständigen Europa. Endlich erschien er; Eunuche El-Schlüer trug die zusammengerollten Papyri mit. Döner Mörgeli hatte wieder sein bleckendes Grinsen – ein gutes Zeichen. Als erstes entrollte er ein Plakat, das einen messerstechenden Christen zeigt, der eine Haremsfrau angriff. Christophmehmed wiegte den Kopf, etwas abgegriffen, fand er, damit konnte keiner seiner Krieger mehr motiviert werden, das hatte vielleicht noch zur Eroberung von Istanbul gereicht, aber nicht im hohen Wien. Das zweite Plakat gefiel ihm schon besser. Es zeigte einen habsburgischen Kaiser, der den roten Halbmond durchschnitt und ins osmanische Reich eindringen wollte. Die graphische Umsetzung war nicht schlecht, aber richtigen Schrecken breitete das Motiv nicht aus. Das Dritte spielte auf die hohen Steuern von Österreich-Ungarn an: Ein ottomanisches Sparschwein wurde von einem christlichen Schwert zerschlagen. Ein Frewel, ausgerechnet ein Schwein, doch abgesehen davon, waren Christophmehmed und seiner Sultanin Abduhallasilvihalla das Motiv zu abstrakt. Besser gefiel ihm ein Vorschlag, der einen widerwärtigen Kirchturm zeigte und den Text enthielt: „Türkei kirchtürmfrei“. Aber so richtig begeistert? Nein, man war ja nicht von gestern und der interreligiöse Dialog mit dem Papst ganz amüsant. Das letzte Plakat zeigte den Sultan in Wien, am Rednerpult im Stephansdom bei einer Rede über die Menschenrechte. Darunter stand: „Redefreiheit. Auch für Europa“ Das gefiel dem Sultan, endlich eine gute Sache, für die zu kämpfen war. Er gab sogleich das Signal für den Sturmangriff vor Wien.
Dank Christophmehmed kann seither an der Bar jeder Vernunft jeder auch nach dem fünften Glas Wein seine Gedanken frei formulieren.

Geldvernichtung. Oktober 2006

René Kuhn hatte es zuerst gesehen, doch selbst in seiner SVP-Grossstadtratsfraktion glaubte ihm anfänglich niemand. Zu wirr war seine Rede über Geldvernichtung, Grosstransporte und Nachtarbeit in der KVA. Doch als sich in der nächsten Nacht einige SVP-Getreue in der Dunkelheit auf die Lauer legten, stockte ihnen kurz nach Mitternacht der Atem. Vor dem Finanzdepartement fuhr die Kehrichtabfuhr vor, der Hintereingang wurde geöffnet und vermummte Männer brachten Container für Container aus dem Gebäude. Der Feldstecherblick war eindeutig: Die Container waren voll von Geld – und sie wurden alle in den Kehrichtwagen gekippt. Und beim genauen Hinsehen wurde deutlich, dass Fahrer wie Mitarbeitende einschlägig bekannt aus der rotgrünen Szene waren. Auf ihrer heimlichen Verfolgungsfahrt des Wagens landeten die aufrechten SVP-Spione in Ibach, wo die Förderbänder zu laufen begannen, der Wagen gekippt wurde und kurz darauf aus dem Feuerungsraum ein stechender Blitz sichtbar wurde und etwas später ein leiser Staubregen aus gewesenen Banknötli niederging – das mit den Filteranlagen war auch nicht so weit her, aber eine andere Geschichte. Kurze Zeit später hielten in Ibach weiter Wagen, die beim Stadthaus, bei der Gemeindeverwaltung Kriens und Emmen und sogar Meggen gestartet waren. Kleinere Camions kamen aus den Landgemeinden und selbst aus Romoos fuhr einer mit einem Viehtransporter vor, um Geld abzuladen. Allerdings klapperte es da ungewöhnlich laut, da nur Münz dabei war.
Damit bewahrheiteten sich die schlimmsten SVP-Befürchtungen: Die Steuergelder wurde nicht nur verlocht oder aus dem Fenster geworfen, sondern gleich auch noch verbrannt. Dagegen gab es nur ein Mittel – die Staatseinnahmen gleich wieder an die Bürger zu verteilen. Beginnen wollte dies die SVP mit der Rückverteilung der Bussengelder. Dass noch ganz andere Geldvernichtungsstätten existierten, übersah die SVP zum Glück. So konnte zum Beispiel an der Bar jeder Vernunft weiterhin jeden ersten Freitag im Monat Geld hochprozentig vernichtet werden.

Bundesrätliche Blessuren September 2006

Was für ein bundesrätliches Wochenende!
Montagmorgen, in der Früh: Die BundesrätInnen schlichen durch den Hintereingang ins Bundeshaus. Sie wollten ihren KollegInnen ihre Blessuren nicht gleich vorführen und hofften, dass diese bis zur Bundesratssitzung vom Mittwoch verheilt waren. Doris Leuthardt trug einen dicken Verband schräg über den Kopf. Hätte sie gewusst, dass sie in eine schlagende Gesellschaft aufgenommen würde, hätte sie die Einladung des Studentenverbandes dankend abgelehnt. Doch als dieser nette Student sie nach ihrer Rede so bleckend angrinste und nach dem Säbel griff, war es schon zu spät und sie hatte ihren Schmiss bekommen. Immerhin – vielleicht konnte sie mit ihrer Narbe noch einen Part an der Seite von Johnny Depp einnehmen? Samuel Schmid hatte nach der Forderung seiner Partei, Micheline Calmy-Rey das Aussenministerium zu entziehen, in einer Panikattacke den ganzen Sonntag seinen „Yes. Einsteiger Englisch für Reisen“ gebüffelt und war total durch, nachdem er schon zwei Wochen zuvor sich auf die Ablösung von Moritz Leuenberger mit einem Wochenendkurs „Reden schreiben, leicht gemacht“ vorbereitet hatte. Ebendieser hatte nach seinem Auftritt und seiner feinen Rede beim Hornussenfest eine saftige Nuoss an den Kopf gekriegt und lallte nachher nur noch Lilke und Holaz. Christoph Blocher war noch ganz schwindlig von den Leviten, die ihm seine Schwester gelesen hatte, Calmy-Rey musste sich zu Hause vorhalten lassen, dass der Sicherheitsratssitz Genf gehöre und nicht der Schweiz und Hans-Rudolf Merz hatte sich eine gefangen, als er über die Kosa-Initiative und die Cosa nostra sinnierte. Und Pascal Couchepins Kopf war voller Blutergüssen – er hatte sich wieder einmal den Kopf eingeschlagen, weil von ihm nichts in der Sonntagspresse stand. Sie alle nahmen sich vor, das nächste Wochenende sanfter zu gestalten und am Freitag die Bar jeder Vernunft im Ambrosia zu besuchen

Wüstenlandschaften. Juli 2006

Gleissend brannte die Sonne über die kahlen Alpen, wo früher Kuhweiden, tiefe Wälder und sprudelnde Bäche waren, war längst nur noch öde Steinwelt. Er legte die Schaufel weg, seine Lippen waren aufgesprungen und er dürstete nach Wasser, über ihm zog ein Geier seine Kreise. Das Skelett weiter vorne musste einmal ein stattliches Braunvieh gewesen sein. Der Blick irrte durch die sirrende Luft, vom Obernau kam eine Karawane näher und Richtung Stadt waren nur noch die Spitzen der Türme der Hofkirche in der Haldendüne zu sehen – alles andere war längst vom Sand zugedeckt worden, den der Südwind unablässig aus der Magadino-Wüste hinüberwehte. Unter dem Geschrei des Aufsehers setzte er die Schaufel wieder an. Zur Sisyphos-Arbeit, das Velociped aus dem Sand zu befreien. Die neue Allparteien-Regierung aus den Grünen, Grünliberalen, Grünkonservativen und Grünsozialen, der grünen Chance 22 und der grünen Phase 111 (die SVP war in den Untergrund gegangen und prompt im Sand versunken) hatte sich zum Ziel gesetzt, die Monumente grüner Geschichte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Unnütz dachte er, und bitter erinnerte er sich, wie er vor einem Monat vom grünen Tribunal wegen Blasphemie zur Zwangsarbeit verurteilt worden war – nur wegen so einer blöden Bareinladung, die von Kälte und Gletscher gehandelt hatte. Neben ihm litt der letzte Hummer-Automobilist, der von der Guardia verde aufgegriffen worden war und vor ihm schuftete ein Erdölschmuggler, der auf dem Schwarzmarkt erwischt worden war. Das wiederum machte Ruth und Michael nervös, die nun nicht mehr garantieren konnten, rechtzeitig auf die Bar zu Eiswürfeln zu kommen. Wie nun den Generator anwerfen, der in einem Geheimgang zu einer alten Zivilschutzanlage führte, versteckt war. Nach der schrittweisen Reduktion von der 2000 Watt- Gesellschaft zur 20-Watt-Gesellschaft war das mit den Eiswürfeln so ein Ding. Ein Wettlauf mit der Zeit begann…man würde sehen. Am nächsten Freitag, ab 20.30 im Ambrosia

Klimaveränderung I. Juni 2006

Ice Age 3

Eine kleine Flutwelle liess das Treibeis vor dem KKL bersten, der Reussgletscher hatte in Flüelen gekalbt und Tonnen von Eis waren in den See gestürzt. Man schrieb das Jahr 2106 und sah im frühen Aufbrechen der Eisfläche auf dem Vierwaldstättersee einen Hoffnungsschimmer für einen milden Frühsommer. Vielleicht, dass die Krüppelfichten und Zwergbirken im Bireggwald wieder grün würden und das Edelweiss und die Alpenrosen auf der Allmend es bis zur Blüte schafften. Die Siedlungen rund um Luzern waren längst aufgegeben worden und die Eingemeindung lief quasi auf dem kalten Weg ab. Auch der Steuerwettbewerb hatte sich erledigt: Nid- und Obwalden waren von Gletschern bedeckt.

Angefangen hatte alles – wie Ältere erzählten – genau Hundert Jahre zuvor. An einem düsteren Tag am Ende des Mais brachte eine Front mit Blitz und Donner Kälte und Regen. Die Schneefallgrenze sank weit hinunter und der Sommer zeigte sich das ganze Jahr nicht mehr. Die Kirschen fielen grün von den Bäumen, die Äcker verwandelten sich in morastigen Sumpf und die Leute klagten über die Frösche und Feuersalamander, auf die man selbst in Waschküchen, Briefkästen und Velosatteltaschen traf. Nacheinander sanken die Kurse der Freibäder, der Bierhersteller und der Grünen.

Das Wetter erholte sich nicht mehr, zuerst stritt man sich noch, wer den Golfstrom abgedreht hatte, doch musste man sich schnell handfesteren Dingen zuwenden: Im Jahre 2015 durchschwamm die erste Elchherde den Rhein und machte bald das ganze Mittelland unsicher. Für die unterlegenen Kühe gab es einen Stallzwang und als ein paar Jahre später der Rhein nicht mehr durchschwommen, sondern zugefroren überquert werden konnte, kamen all die Tiere aus der Norddeutschen Steppenlandschaft (Schneehasen, Schneeziegen, Schneeschafe, Schneeschnecken, Schneeschaben und Schneekröten) in die Nähe der Alpen. Dem ehrgeizigen russischen Forscher Geniwitsch Klonow war es auch zu verdanken, dass das sibirische Mammut wiederauferstand. Das erste versoff zwar noch im Rhein, doch im nächsten Winter trug das Eis selbst diese Tiere.

Einige Ältere erinnerten sich noch, dass man sich früher im Garten des Ambrosia in Kriens jeden ersten Freitag im Monat traf. Jetzt, da sich doch seit einigen Tagen Temperaturen über dem Gefrierpunkt hielten, wollten sie einen Ausflug Richtung Kriens entlang des Krienbachgletschers wagen, vielleicht, dass immerhin die Wodkaflaschen nicht vor Kälte zersprungen waren und es für einen Ice Smirnoff reichte – auch wenn einem ein Aprikosenlikör oder ein Kirsch (ah, nur schon der Name) mehr gepasst hätte – doch das Zeug war nicht einmal mehr im Schwarzhandel zu haben.

Prominenz für Luzern. Mai 2006

Die Ankündigung, Jackson wolle ins Gütsch umziehen und die Berlusconis hätten sich als Exil das Engadin ausgewählt, löste bei der Krienserbevölkerung nur ein müdes Achselnzucken aus. Schon längst hatte sie gelernt, mit der Anwesenheit von Prominenz zu leben. Angefangen hatte es mit dem Kauf des alten Gemeindehauses durch Jacques Chirac, der sich für den Ruhestand eine kleine Mairie bereit halten wollte. Danach reservierte sich USA-Vizepräsident Dick Cheney ein Zimmer im Pflegeheim Zunacher I – die Aussicht war zwar mässig, aber die Vogelvoliere versprach Kleinvögelschiessen auch im höchsten Alter ohne Verletzungsgefahr. Prinz Ernst August hatte sich dank einem Hinweis im Familienstammbaum auf einen entfernten Krienser Vetter das Schlössli gesichert und liess als erstes eine Bierleitung von der Eichhof Brauerei hochziehen und vier neue WC anbauen. Kommunistenführer Fausto Bertinotti hatte sich die Teiggi zusammengekauft, um ein Proletariermuseum „Basta la Pasta“ zu gründen. Prad Pitt und Angelina Jolie waren vor den Paparazzis aus Namibia geflohen und wollten jetzt ihr Kind in einer einfachen Krippe in einem Rehunterstand im Krienser Hochwald zur Welt bringen. Reinhold Messmer hatte sich den Unter-Strick ausgesucht, da er noch nie einen so überhängenden Bauernhof gesehen hatte. Albert II wollte den neuen Pilatus-Markt kaufen, bemerkte aber kurz vor Unterzeichnung, dass es sich nicht um eine Trutzburg aus dem 13. Jahrhundert handelte, sondern um ein neues Einkaufszentrum. Und Papst Benedikt fand Gefallen an der schön renovierten Hergiswaldkirche und plante, seine Sommerferien statt in Castel Gandolfo neu in der Einsiedelei im Hergiswald zu verbringen. Auch das Ambrosia stand kurz vor einem Verkauf: Nella Martinetti hatte schon längst von einem Wirteleben geträumt und wollte sich in dieser netten Bar verwirklichen, Ruth und Michael hätten bleiben dürfen, so herzigi wie sie seien. Noch zögerten sie.

Schulische Unzulänglichkeiten April 2006

Justus Didactus raufte sich die Haare. Schon wieder traf eine neue Verfügung vom römischen Schulministerium ein. Neu galten für die Barbaren aus dem Norden noch strengere Regeln: Nur noch Latein auf dem Schulhausplatz, konsequente Integration in die römische Lebensart und Sitten, sowie Einheits-Schultunika für alle sowie ein einheitlicher Religionsunterricht nach den Grundregeln der römischen Gottheiten. Was hatten die im sonnigen Süden für eine Ahnung. Was sollte er tun? Schon längst hatten die meisten Römer das Alpenvorland verlassen und ihm blieben die alemannischen Knaben, keltischen Jungfrauen und Illyrer aus lernfremden Milieus.

Kreischend stritten sich im Atrium wieder einmal Swingruobers Sohn mit jenem vom Büelmann. Eines war ihnen gemeinsam: Die Tunika hatten sie nur notbehelfs über ihre Beinkleider geworfen und spotteten mit ihrem Aussehen erst recht jedem römischen Gemüt. An der Wandtafel hatte einer hingekritzelt: „ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden“. Didactus rieb sich an den Schläfen, keine Ahnung, was das wieder sollte. Egal, ihm brummte eh noch der Schädel vom Vorabend – ein Alemanne hatte ihn am Elternabend etwas hart angepackt, als er an die elterliche Verantwortung im Zivilisierungsprozess gesprochen hatte. Auch die weiteren Aussichten waren schlecht: Am Abend drohte noch ein Gespräch mit Intellecta Superba, der Mutter von Vitus, die ultimativ eine Hochbegabtenförderung für ihren Sohn verlangte, da sein IQ über CXXXIII liege. Was sollte er ihm schon anbieten, da der römische Staat ständig die Mittel kürzte, nur noch abgewetzte Ziegenhäute für die Schreibübungen aufzutreiben waren und die Barbaren beim letzten Einfall die gesamt Bibliothek abgefackelt hatten? O tempora, o mores! – Er wünschte sich nur noch eine Cerevisia und ein Frühlingsrolle im Ambrosia, wo er sich jeweils mit Gleichgesinnten traf. Immer am ersten dies Veneris oder wie die hier sagte, am ersten Tag der Freya im Monat.

Kantonale Chirurgie März 2006

Chefchirurg Max Pflaster setzte den Mundschutz um. Auf einen kurzen Wink warf Schorschi Theiler mit glänzenden Augen den Betonmischer an. Auf dem Schragen lag röchelnd der Luzerner Patient, Autos quollen ihm aus der Nase, Mund und After. Es drohte ein akuter Verkehrsinfarkt. Max Pflaster hatte seit langem auf diese Operation gewartet. Das Einsetzen eines Bypasses am lebenden Verkehrsobjekt galt als hochriskantes Unternehmen. Schorschi stellte die Frequenz höher und das Autobahnherz in Härkingen fing stärker zu pumpen an. Alle Ampeln im Raum leuchteten auf. Langsam schnitt Pflaster den Körper auf und wollte den kurzen Bypass einsetzen, da kam Assistenzarzt Bruno Peter mit einem viel längeren Ding angerannt, der dem Patienten bis zum Schlund hoch gereicht hätte. Pflaster schubste ihn verärgert weg.

Die Operation gelang prächtig, doch irgendetwas war schiefgelaufen, die Autos schossen immer noch durch alle Poren aus dem Körper und stauten sich gefährlich. Pflaster riss sich den Mundschutz ab und rief nach Peter, stolz kehrte dieser in den Saal zurück und der lange Bypass wurde eingesetzt. Doch statt dem erhofften Effekt wurde der Patient von einer autophoben Sepsis geschüttelt. Schorschi stellt die Frequenz noch höher, bis der Betonmischer aus Eigenschwingungen zu hüpfen begann. Ein strafender Blick traf ihn. Pflaster fand einen noch längeren Bypass und setzte ihn direkt an das nächste Verkehrsorgan, das er fand. Erschöpft schaute er auf sein Werk. Der Patient wurde ruhiger, doch langsam schwellte sein Bauch an – kein Wunder, war der neue Bypass doch an den Magen angeschlossen. So löste sich Auto für Auto in den Magensäften auf.

Davon übrigens hatten die Gäste der Bar jeder Vernunft schon längst nichts mehr mitbekommen. All die neuen Verkehrsstränge hatten sie in Kriens eingesperrt, was ihnen aber durchaus bekam. Nur ab und zu hörten sie von ferne einen Rülpser, wenn der Patient wieder einige unverdaubare Autos ausspie.
Michael und Ruth

Daniel Bühlmanns Ängste. Februar 2006

Genau von vorne ritten sie über die Prärie auf ihn zu, er ging in die Knie. Markerschütternd war ihr Geheule, gross ihre rotbemalten Münder, die Erde vibrierte, ihr wallendes Haar wehte im Nordwind und als die Anführerin der Amazonen einen Pfeil aus dem Köcher zog und auf ihn zielte, schrumpfte sein Schniddelwutz zur Unkenntlichkeit, dann war das Bild weg. Kurze Zeit später fand er sich wieder auf einem einfachen Laubsack, mit Leinen gefesselt, und neben ihm eine zahnlose Frau, die im fahlen Licht des Herdfeuers mit einem Mörser rote Beeren zerstampfte, Fledermausohren hinzufügte und alles mit etwas Milch einer neugekalbten Kuh mischte. Hildegard von Bingen murmelte Zaubersprüche, sein Glied solle wie ein dürrer Stab abfallen, humpelte zu ihm und als sie ihm mir ihrer knorrigen Hand den Mund öffnete und die Flüssigkeit einflössen wollte, war die Erinnerung weg. Er fand sich wieder vor einem Scheiterhaufen, Jeanne d’Arc schaute ihn durchdringend von dort an, nur er hörte ihr durchdringendes Wispern und Verlockungen und näherte sich immer mehr den Flammen. Knapp bevor sein Hosenbund Feuer fing, tauchte er ab. Ermattet und schweissgetränkt war Daniel B. als er auf Helvetia traf und sich bei ihr in Sicherheit fühlte. Nicht lange – denn auch sie packte ihren Speer, und ritscheratsche waren seine Hosen zerissen und er konnte nur noch mit den Händen seine Scham bedecken und auf und davonrennen. Das Hohngelächter Helvetias verlor sich und er fand sich im Kanton Luzern und wurde erster SVP-Regierungsrat. Doch auch hier plagten ihn weiter seine Kastrationsängste und vor den Männerrunden des Kantons musste er immer wieder von neuem seine vielen Alpträume losschütteln. Er wusste nicht, dass es ganz andere Mittel gab, seine Neurosen zu besänftigen – an der Bar jeder Vernunft gab es einen Drink, der alle Ungemache der inneren Tiefen zuschüttete. Viele Leute wussten schon davon und freuten sich des Lebens.