Die Schweiz liegt mitten in Europa. Ihre Geschichte ist verwoben mit der Geschichte der Nachbarn. Unser heutiges Staatsgebiet lag und liegt an wichtigen Handelsstrassen, zwischen grösseren Staaten und bereits früher zwischen grösseren Herrscherhäuser, Nationen, die die europäische Geschichte prägten. Die Schweiz war nie am Rand, aber auch diese Situation war und ist in Europa keine spezielle Situation, wir teilen sie mit anderen Staaten wie Belgien, Tschechien, Regionen wie das Elsass, Lothringen, Burgund und anderen Regionen in Ostmitteleuropa.
Jede Gruppierung, die zusammenfindet, definiert sich auch über eine gemeinsame Geschichte, Herkunft, Besonderheiten, die sie von anderen abhebt, egal, ob es sich um moderne Staaten, Religionsgruppen, kulturelle Vereinigungen oder ethnische Gemeinschaften handelt. Heldenhafte Geschichten, grosse Männer, auch ein paar Frauen, gloriose Taten und toll erzählte Begebnisse helfen mit, sich von anderen abzugrenzen und ein Gemeinschaftsgefühl zu bilden. Diesen Geschichten begegnen wir überall und unser Bundeshaus ist
voll davon, es wurde in einer Zeit gebaut, als diese Helden und Heldinnen besonders im Schwange waren, auch rund um uns herum wimmelte es von nationalen Personifikationen wie der Marianne, der Germania, unserer Helvetia oder mythischen und historischen Figuren wie Jeanne d’Arc, der germanische Arminius oder eben Bruder Klaus und Winkelried gehören ebenso dazu. Diese Figuren und Geschichten sagen etwas über das Selbstbild dieser Gesellschaften aus und sind oft wunderbar erzählt. Und
in diesem Sinne schätze ich diese Erzählungen. Wir sollten uns aber hüten, von ihnen Empfehlungen für die Zukunft zu erwarten. Denn unsere Geschichte ist nicht nur eine Geschichte von heldenhaften Erzählungen und Abgrenzung gegen aussen, sondern auch eine alltägliche Geschichte der Verflechtungen mit unseren Nachbarn, und zwar politisch wie wirtschaftlich.
Schon vor Hunderten von Jahren haben die ländlichen Orte in der Schweiz Käse exportiert. Dies ging einher mit einer verstärkten Bewirtschaftung unserer Alpen und einer Abkehr in den Bergregionen vom Ackerbau. Man konzentrierte sich auf die Milchproduktion und den Export und importierte dafür Getreide. Bereits vor 700 Jahren hat man sich spezialisiert und damit die Wertschöpfung erhöht. Und um diesen Geschäftszweig abzusichern, brauchte es Garantieren wie Allianzverträge. So konnte Käse aus der Eidgenossenschaft zollfrei nach Frankreich exportiert werden, was ein grosser Wettbewerbsvorteil bedeutete, zudem bekamen die Eidgenossen Salz zu vorteilhaften Konditionen.
Um 1800 setzte sich die Käseproduktion mit einem hohen Exportanteil dann auch im Mittelland durch, es entstanden die unzähligen Molkereien, die in letzten Jahrzehnten wieder eingingen. Der Emmentaler begann seinen Siegeszug durch Europa und darüber hinaus. Auch hier gab es eine wirtschaftlich vorteilhafte Spezialisierung.
Aber es wurde nicht nur Käse exportiert, sondern auch Rinder um die Städte mit Fleisch zu versorgen. Eine besonders hohe Nachfrage bestand in den oberitalienischen Städten. Vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert wurde das Vieh im sogenannten Welschlandhandel aus dem Gebiet der Schweiz in die Lombardei und Piemont getrieben. Für das 18. Jahrhundert wurde geschätzt, dass 15’000 bis 20’000 Tiere pro Jahr so verkauft wurden. Die Tiere wurden über die Alpenpässe getrieben, was eine grosse Logistik voraussetzte und das Geschäft war risikoreich. Der Fleischkonsum schwankte je nach Konjunktur, doch niemand konnte sich erlauben, seine Tiere wieder nach Hause zu treiben. Man brauchte also auch Kapitalreserven in diesem Geschäft.
Bekannt ist der Söldnerdienst. Er war wirtschaftlich sehr bedeutend. Anfang 18. Jahrhundert befanden sich rund 50’000 Männer aus der Eidgenossenschaft in fremden Diensten. Das Söldnerwesen wurde stark als militärische Geschichte erzählt, doch ging es auch um eine Arbeitsmigration mit sehr grosser wirtschaftlicher Bedeutung, denn in den ländlichen Regionen gab es konstant einen Geburtenüberschuss und eine wachsende Bevölkerung, die nicht vor Ort einen Verdienst fand.
Verschiedene Regionen der Schweiz waren stark in der Stoffproduktion. Auch hier war der Export sehr wichtig. Als Beispiel sei die Produktion des Indiennes-Stoffes genannt. Das waren bedruckte Baumwollstoffe, aus Indien übernommen. Die Produktion brachten Hugenotten in die Schweiz, die aus Frankreich vertrieben wurden, zugleich verbot Frankreich diese farbigen Tücher um traditionelle Tuchhersteller zu schützen. Die Textilindustrie war die Leitindustrie der Schweiz mit zum Teil über 100’000 Beschäftigten.
Die eidgenössischen Stände waren aber nicht nur wirtschaftlich verflochten, sie waren noch ganz lange Teil des römischen Reiches deutscher Nation, teilweise waren sie auch noch bis ins 16 Jahrhundert bereit, eine Zugehörigkeit zu Habsburg anzuerkennen. Auf dieser Karte wird dies sichtbar, erst 1648 hat die Schweiz sich vom römischen Reich abgekoppelt. Doch auch diese Abkoppelung kam nicht nur aus eigenem Antrieb. Der eidgenössische Gesandte Rudolf Wettstein verhandelte in Westfalen zuerst nicht über die Loslösung, sondern nur über eine Zusage, dass keine Basler Kaufleute mehr vor das Reichsgericht zu zitiert werden können. Es war der französische Gesandte, der ihm zuflüsterte, er solle um die Souveränität zu verhandeln. Das war nicht im Sinne der katholischen Orte, die den uneindeutigen, gewohnheitsrechtlichen Zustande lieber belassen hätten als unsichere diplomatische Verhandlungen aufzunehmen.
Zurück zum Söldnerwesen: Dieses finanzierte die Aristokratie, die diese Verträge aushandelte, durch Pensionen und schuf ein Geflecht von Beziehungen. Die Zahlungen ermöglichten es den Städten, auf Steuereinnahmen zu verzichten und auf ein eigenes Heer, denn mit den Soldverträgen wurden auch militärische Schutzgarantien abgegeben.
Auf dem Wiener Kongress waren die Schweizer Vertreter heillos zerstritten. Die einen wollten die alte Welt mit Untertanengebieten wieder herstellen, diese wehrten sich natürlich und das Wallis fand, es gehöre gar nicht zur Schweiz. Es gab eine Delegation der Tagsatzung und gleichzeitig Gesandte aus einzelnen Kantonen, die nichts miteinander zu tun haben wollten. Es war eine Kommission aus Mitgliedern der grossen europäischen Mächten, die damals formulierte, was aus der Schweiz werden solle. Selbst ein Tagsatzungsabgeordnete sagte, man könne das nicht den Schweizern überlassen, sonst gebe es einen Bürgerkrieg. Die europäischen Mächte machten das nicht aus Nächstenliebe zur Schweiz, sondern sie wollten einen Puffer zwischen Frankreich und anderen Staaten schaffen und hatte kein Interesse an einem Unruheherd mitten in diesem Europa. Aber ohne dieses Engagement hätte es sein können, die Schweiz wäre in der Alten Eidgenossenschaft hängengeblieben und verschwunden.
Das mit dem Lernen aus der Geschichte ist immer so eine Sache. Aber wir können aus der Geschichte, wie die eidgenössischen Orte zusammenfanden und wie sie mit den umliegenden Mächten verbunden waren, drei Sachen mitnehmen, die für Zuversicht und Gelassenheit in der Auseinandersetzung zur heutigen europäischen Frage stehen.
Natürlich – wie eingangs erwähnt – ist die Geschichte der Schweiz auch eine Geschichte, wie ein Staatenbündnis und nachher ein Bundesstaat Souveränität schafft und absichert. Aber die Geschichte zeigt deutlich, wie wir immer im Austausch und in Abhängigkeiten waren, wirtschaftliche wie politische. Sicherheit entstand immer auch durch die Absicherung durch Nachbarstaaten.
Diese Absicherung wurde in unzähligen Verträgen festgehalten. Bei allem Streben nach Unabhängigkeit gehörte diese Absicherung mit komplexen Vertragswerken auf ganz unterschiedlichen Themen zu unserer Geschichte. Und so komplex und schwer durchschaubar wie die EU heute ist, war es die Eidgenossenschaft als Staatenbund auch. Gewisse Kreise haben eine merkwürdige Angst vor internationalen Vereinbarungen und Verträgen entwickelt, obwohl genau diese Art des Aushandelns zur DNA der Schweiz gehört.
Die Schweiz verdankt ihre Existenz oder auch ihre Weiterentwicklung ihren Nachbarn, die einen Sinn in dieser Schweiz sahen. Natürlich waren das keine schweizliebenden Herrscherhäuser rundherum, die zum Beispiel am Wiener Kongress die Schweiz bewahrten, aber man sollte bei anderen Staaten nicht immer schlimmste Absichten vermuten. Oft ergänzen sich die Interessen und es entstehen daraus gute Lösungen für beide Seiten. In diesem Sinne sollten wir auch die EU als Partnerin sehen, mit der wir für beide Seiten gute Lösungen suchen.
Quellen:
Holenstein André, Mitten in Europa
Bergier, Jean-François, Wirtschaftsgeschichte der Schweiz
Historisches Lexikon der Schweiz
Bilder: Bundeshaus eigene Aufnahmen / Käseherstellung: Historisches Lexikon/ Viehexport: Pro Cinema, Tönnis Brautfahrt/ Söldner: Blog Nationalmuseum / Karte hl. röm. Reich: Wikipedia/ Wiener Kongress: Infosperber