Ein gewisses Alter hat auch seine Vorteile: Man erinnert sich an die eine oder andere Situation oder Zeit und das hilft einem manchmal, eine aktuelle Diskussion einzuordnen. So zum Beispiel einen Meinungsbeitrag von René Scheu, Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik. Er beklagt sich, dass heute Leute gecancelt würden und ein falsches Wort genüge, um Karrieren zu beenden.
Zuerst: Mir kommt spontan keine einzige Person in der Schweiz in den Sinn, deren Karriere wegen eines falschen Wortes beendet worden wäre. Vielleicht passt das am ehesten noch zu Jonas Fricker, der als Grüner Nationalrat nach einem unterirdischen Vergleich von Tiertransporten und Holocaust zurücktrat – auf Druck gewisser Medien, nicht aber der jüdischen Gemeinschaft. Aber gerade auf der konservativen Seite, die von Canceln spricht, wer hat wegen einer unbedachten Aussage gehen müssen? Im Gegenteil, der Pegel an Provokationen steigt doch ständig an.
Was mich aber mehr irritiert, ist das kurze Gedächtnis von René Scheu. Er erinnert sich zwar an die Zensur staatlicher Stellen in totalitären Regimes, doch die frühere Normalität hierzulande – als man angeblich noch frei reden durfte – ist ihm entgangen. In den 80er Jahren konnten Mitglieder der POCH im Kanton Luzern nicht als Lehrerin oder Lehrer arbeiten. Schwule Männer versuchten es meist gar nicht und sie landeten in der Schwulenkartei, fichiert und registriert wie so manch andere Person. Auf dem Land getraute sich kaum jemand, für eine linke Partei hinzustehen und man abonnierte das Vaterland um nicht als links zu gelten und um Stipendien zu erhalten. Generationen können ein Lied davon singen, wie sie zum Gottesdienstbesuch gezwungen wurden. Vielleicht dachten sie ja was ganz anderes, aber sie sprachen es nicht aus. Konformität und Anpassungsdruck waren damals viel stärker.
Als ich Anfang der 90er Jahre in den Krienser Einwohnerrat kam, lag der damalige sogenannte Mainstream in einer Agglomerationsgemeinde weit rechts. Es gab auch damals gute Gesprächspartner*innen in allen Parteien, aber der eine oder andere versuchte schon, diesem jungen Grünen die Welt erklären. Ich war mich Gegenwind gewohnt, es war ja auch ein Ansporn.
René Scheu zitiert aus einem Buch von Richard Precht, der sich über das Überhandnehmen der Moral beklagt und dass sich die Menschen ständig angegriffen fühlten. Er malt ein Bild einer Gesellschaft, in der nur noch hinter vorgehaltener Hand die Meinung gesagt werde. Tatsächlich zeigen Studien, dass eine zunehmende Zahl von Menschen in Deutschland angibt: Ich sage nicht mehr, was ich sagen möchte. Umfragen von Allensbach zum Thema dazu geben zu denken, ein erheblicher Teil der Leute antworten in diese Richtung. Allerdings gibt es Kritik an diesen Studien. So drücken sie aus, wie der Eindruck der Leute ist und messen keine effektiven Aussagen. Ob diese tatsächlich heute weniger breit sind, wissen wir nicht. Kritik kam auch an den Fragen, die als flach bezeichnet wurden. So wurden die Leute etwa gefragt, ob sie es richtig fänden, dass man nicht mehr Zigeunerschnitzel sagen dürfe. Oder ob es ihnen auch so gehe, dass es sie nerve, wenn andere versuchen, ihnen eine Sprachregelung aufzudrängen. Ich glaube, sowas nennt sich Suggestivfrage. Die Studie kommt zum Resultat, dass die Leute im privaten Bereich viel toleranter seien im Sprachgebrauch als es die Medien und diese sich von den Leuten entkoppelten. Gleichzeitig zeigt die neueste Allensbach-Studie, dass viele Menschen zwar der Meinung sind, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, selber aber auch rasch ein Verbot von Aussagen fordern. So befürwortet die Hälfte der Teilnehmenden ein Verbot für die Aussage, dass Soldaten Mörder seien. Für dieses Verbot haben sich wahrscheinlich keine woken Linken in der Umfrage ausgesprochen, sondern genau jene, die sich selber in ihrer Meinungsäusserung eingeschränkt fühlen. Alles etwas widersprüchlich…
Was aber aus meiner Sicht zentral ist und bei diesen Studien ausgeblendet wird: Ein Teil der politischen Parteien – das fängt in Deutschland bei der AfD und bei uns bei der SVP an, geht aber weit darüber hinaus – erzählt mantramässig, man dürfe ja nicht mehr alles sagen und sie stilisiert jede Zigeunerschnitzeldiskussion zu einer Cancel Culture Diskussion hoch. Das hat seine Wirkung, insbesondere durch die Verstärkung in den Medien. Und ausgerechnet Richard Precht, der die Meinungsäusserungsfreiheit in Gefahr sieht und überall Zensur wittert, hat eine sehr grosse Medienpräsenz. Er wird alles andere als gecancelt.
Und dazu noch eine persönliche Einschätzung: Gewisse Leute sind überrascht und verärgert, dass ihre Meinung auf Grund des gesellschaftlichen Wandels nicht mehr mehrheitsfähig ist. „Man darf das doch wohl sagen dürfen“: Ja klar, nur zu, aber muss halt mit dem Widerspruch umgehen können. Und daran mangelt es nicht nur Personen aus linken Milieus, sondern auch rechtskonservativen Kreisen.
Unsere Meinungsäusserungsfreiheit ist nicht in Gefahr, weil es eine Diskussion gibt, wie ein Süssgebäck mit Schokoladenüberzug genannt wird. Eine verödende Medienlandschaft, ein US Präsident, der einzelne Politiker wegen ihren Aussagen abstraft oder gleich gegen das ganze Land Zölle verfügt, sehe ich als grösseres Problem für die freie Meinungsäusserung. Dazu kommen auch in Europa autokratische Regierungen, die wie in Ungarn Menschenrechte massiv einschränken, queere Personen aus dem Strassenbild weg haben wollen und ihnen jedes Recht auf Demonstrationen nehmen. Und ein weiteres breites und wichtiges Thema sind die Tech-Plattformen, die möglichst polarisierende Aussagen favorisieren und ohne Spielregeln Diskussionen zulassen.

Anfang der 70er Jahre wuchs der Unwillen gegen diese Verschandelung der Städte. In Luzern war zum Beispiel selbst der Weinmarkt ein Parkplatz. 15’000 Personen hatten 1972 eine autofreie Altstadt gefordert und 1973 schloss sich die City-Vereinigung dem Anliegen an. Auf Antrag der Stadt erliess dann der Regierungsrat auf weiten Strecken in der Altstadt ein Fahrverbot. Ausnahmebewilligungen und einzelne Parkplätze gaben aber weiter zu reden. Aber:
Wer kann sich heute vorstellen, dass der Weinmarkt ausser für den Umschlag von Waren als Parkplatz dienen könnte? Wer möchte diesen Zustand zurück? Das Flanieren durch die Altstadt ohne ständige Gefahr einer Kollision mit einem Auto ist ein grosser Pluspunkt, Restaurants bedienen draussen. Es ist eine völlige Selbstverständlichkeit, auch wenn es auf anderen Plätzen noch viel länger ging.
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Versuchsbetrieb während einiger Sommer, wie oft ging es lange, doch nach der Aufhebung der Parkplätze auf dem Mühlenplatz konnten mehrere Restaurants den Aussenplatz nutzen, er ist ein beliebter Treffpunkt, es gibt weiterhin kleinere Läden und wenn nötig, kann auch ein Auto parkieren, wie es in der ganzen Altstadt der Fall ist. Wieder die Frage: Wer möchte die Zeit zurückdrehen und vermisst die Parkplätze auf dem Mühlenplatz?

Das entspricht auch der ursprünglichen Planung der Quartiere rund um die Altstadt: Sie wurden in einer Zeit geplant und grösstenteils gebaut, als es noch keine Autos gab. Diese Quartiere sind tatsächlich dicht, aber der Eindruck des Strassenraums ist durch die vielen Parkplätzen und die Dominanz des Autoverkehrs geprägt. Etwas weniger verstellt, sehen diese Strassen viel grosszügiger aus, wie hier die Hirschmattstrasse selber.
Und majestätische Gebäude kommen besser zur Geltung, wenn sie nicht vom Verkehr verschluckt werden und nicht nur in der Altstadt ihre Schönheit entfalten, wie hier an der Ecke Hirschmatt-Pilatusstrasse. Natürlich können diese Flächen nicht mehr völlig freigespielt werden, die Bevölkerung ist massiv gewachsen, die Bedürfnisse ebenfalls, doch andere Städte zeigen, dass mit Superblocks in Barcelona, mit Verkehrsberuhigungen in Paris viel drin liegt.
Jede Gruppierung, die zusammenfindet, definiert sich auch über eine gemeinsame Geschichte, Herkunft, Besonderheiten, die sie von anderen abhebt, egal, ob es sich um moderne Staaten, Religionsgruppen, kulturelle Vereinigungen oder ethnische Gemeinschaften handelt. Heldenhafte Geschichten, grosse Männer, auch ein paar Frauen, gloriose Taten und toll erzählte Begebnisse helfen mit, sich von anderen abzugrenzen und ein Gemeinschaftsgefühl zu bilden. Diesen Geschichten begegnen wir überall und unser Bundeshaus ist
voll davon, es wurde in einer Zeit gebaut, als diese Helden und Heldinnen besonders im Schwange waren, auch rund um uns herum wimmelte es von nationalen Personifikationen wie der Marianne, der Germania, unserer Helvetia oder mythischen und historischen Figuren wie Jeanne d’Arc, der germanische Arminius oder eben Bruder Klaus und Winkelried gehören ebenso dazu. Diese Figuren und Geschichten sagen etwas über das Selbstbild dieser Gesellschaften aus und sind oft wunderbar erzählt. Und
in diesem Sinne schätze ich diese Erzählungen. Wir sollten uns aber hüten, von ihnen Empfehlungen für die Zukunft zu erwarten. Denn unsere Geschichte ist nicht nur eine Geschichte von heldenhaften Erzählungen und Abgrenzung gegen aussen, sondern auch eine alltägliche Geschichte der Verflechtungen mit unseren Nachbarn, und zwar politisch wie wirtschaftlich.
Schon vor Hunderten von Jahren haben die ländlichen Orte in der Schweiz Käse exportiert. Dies ging einher mit einer verstärkten Bewirtschaftung unserer Alpen und einer Abkehr in den Bergregionen vom Ackerbau. Man konzentrierte sich auf die Milchproduktion und den Export und importierte dafür Getreide. Bereits vor 700 Jahren hat man sich spezialisiert und damit die Wertschöpfung erhöht. Und um diesen Geschäftszweig abzusichern, brauchte es Garantieren wie Allianzverträge. So konnte Käse aus der Eidgenossenschaft zollfrei nach Frankreich exportiert werden, was ein grosser Wettbewerbsvorteil bedeutete, zudem bekamen die Eidgenossen Salz zu vorteilhaften Konditionen.
Aber es wurde nicht nur Käse exportiert, sondern auch Rinder um die Städte mit Fleisch zu versorgen. Eine besonders hohe Nachfrage bestand in den oberitalienischen Städten. Vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert wurde das Vieh im sogenannten Welschlandhandel aus dem Gebiet der Schweiz in die Lombardei und Piemont getrieben. Für das 18. Jahrhundert wurde geschätzt, dass 15’000 bis 20’000 Tiere pro Jahr dverkauft wurden. Die Tiere wurden über die Alpenpässe getrieben, was eine grosse Logistik voraussetzte und das Geschäft war risikoreich. Der Fleischkonsum schwankte je nach Konjunktur, doch niemand konnte sich erlauben, seine Tiere wieder nach Hause zu treiben. Man brauchte also auch Kapitalreserven in diesem Geschäft.
Bekannt ist der Söldnerdienst. Er war wirtschaftlich sehr bedeutend. Anfang 18. Jahrhundert befanden sich rund 50’000 Männer aus der Eidgenossenschaft in fremden Diensten. Das Söldnerwesen wurde stark als militärische Geschichte erzählt, doch ging es auch um eine Arbeitsmigration mit sehr grosser wirtschaftlicher Bedeutung, denn in den ländlichen Regionen gab es konstant einen Geburtenüberschuss und eine wachsende Bevölkerung, die nicht vor Ort einen Verdienst fand.
hier war der Export sehr wichtig. Als Beispiel sei die Produktion des Indiennes-Stoffes genannt. Das waren bedruckte Baumwollstoffe, aus Indien übernommen. Die Produktion brachten Hugenotten in die Schweiz, die aus Frankreich vertrieben wurden, zugleich verbot Frankreich diese farbigen Tücher um traditionelle Tuchhersteller zu schützen.
Die eidgenössischen Stände waren aber nicht nur wirtschaftlich verflochten, sie waren noch ganz lange Teil des römischen Reiches deutscher Nation, teilweise waren sie auch noch bis ins 16. Jahrhundert bereit, eine Zugehörigkeit zu Habsburg anzuerkennen. Auf dieser Karte wird dies sichtbar, erst 1648 hat die Schweiz sich vom römischen Reich abgekoppelt. Doch auch diese Abkoppelung kam nicht nur aus eigenem Antrieb. Der eidgenössische Gesandte Rudolf Wettstein verhandelte in Westfalen zuerst nicht über die Loslösung, sondern nur über eine Zusage, dass keine Basler Kaufleute mehr vor das Reichsgericht zu zitiert werden können. Es war der französische Gesandte, der ihm zuflüsterte, er solle um die Souveränität zu verhandeln. Das war nicht im Sinne der katholischen Orte, die den uneindeutigen, gewohnheitsrechtlichen Zustande lieber belassen hätten als unsichere diplomatische Verhandlungen aufzunehmen.
Auf dem Wiener Kongress waren die Schweizer Vertreter heillos zerstritten. Die einen wollten die alte Welt mit Untertanengebieten wieder herstellen, diese wehrten sich natürlich und das Wallis fand, es gehöre gar nicht zur Schweiz. Es gab eine Delegation der Tagsatzung und gleichzeitig Gesandte aus einzelnen Kantonen, die nichts miteinander zu tun haben wollten. Es war eine Kommission aus Mitgliedern der grossen europäischen Mächten, die damals formulierte, was aus der Schweiz werden solle. Selbst ein Tagsatzungsabgeordnete sagte, man könne das nicht den Schweizern überlassen, sonst gebe es einen Bürgerkrieg. Die europäischen Mächte machten das nicht aus Nächstenliebe zur Schweiz, sondern sie wollten einen Puffer zwischen Frankreich und anderen Staaten schaffen und hatte kein Interesse an einem Unruheherd mitten in diesem Europa. Aber ohne dieses Engagement hätte es sein können, die Schweiz wäre in der Alten Eidgenossenschaft hängengeblieben und verschwunden.
Die Kommission hat den Ausbau von vier Autobahnabschnitten abgesegnet und sogar ein weiteres Projekt aufgenommen. Die Aufnahme des Projekts am Genfersee ist besonders pikant: Bundesrat Rösti hat es an seiner 100 Tage Medienkonferenz quasi bestellt («Wenn das Parlament (…) die Westschweiz noch spezifisch berücksichtigen will, finde ich dies aus einer übergeordneten Landessicht durchaus verständlich.» ) und die Kommission hat es prompt zwei Wochen später umgesetzt.